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Lobgesang

Titel: Lobgesang
Autoren: Ken Scholes
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neben sie. »Ich denke, du solltest zuerst mit Rudolfo sprechen.«
    Winters nickte schniefend. Neb beobachtete sie, und ihm wurde klar, wie wenig er über dieses Mädchen wusste. Die Träume waren … Was waren sie eigentlich? Sie entblößten darin auf jeden Fall ihre unbewussten Hoffnungen und Ängste voreinander, vermengt mit den metaphysischen Elementen, die Neb auch jetzt noch lediglich akzeptieren konnte, ohne sie ganz zu verstehen. »Vorhin, noch bevor die Warnstufe ausgerufen wurde, hatte ich eine Erscheinung.«
    Er blinzelte. »Eine Vision?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nur Worte … und eine dunkle Vorahnung.« Sie runzelte die Stirn, während sie die Erinnerungen hervorholte. »Ein säubernder Wind aus Blut«, sagte sie. »Und tilgendes kaltes Eisen.«
    Bis vor kurzem hatte er keinen Bezug zu der Zungenrede und den Weissagungen gehabt, die einen Teil des alltäglichen Lebens der Sumpfkönigin darstellten. Diese Konzepte waren ihm völlig fremd gewesen. Die Androfranziner, die ihn in ihrer Waisenschule unterrichtet hatten, gingen an Mythen und Mystizismus mit Logik und wissenschaftlichen Methoden heran. Die Vorstellung, diese Dinge aufzuschreiben und in ihnen nach irgendeinem Sinn für das Morgen zu suchen, war ihm geradezu töricht erschienen, bis er es am eigenen Leib erfahren hatte.
    Vor etwas mehr als einem Jahr hatte Xhum Y’Zirs Zeitalter des
Lachenden Wahnsinns ihn im Schatten der Ruinen von Windwir berührt, hatte in ihm eine Tür geöffnet, von der er nicht sicher war, ob man sie je wieder würde schließen können. Vom Augenblick jenes ersten heißen Windstoßes an war er unfähig gewesen, verständliche Sätze zu bilden, stattdessen hatte er wirre Fetzen aus den Evangelien des P’Andro Whym ausgespuckt, mit ekstatischen Äußerungen und funkelnden Bildern vermischt, die sich mit Worten nicht fassen ließen. Es war nach einer kurzen Weile vorübergegangen, hatte allerdings etwas in ihm verändert, genauso unumstößlich wie sein einst braunes Haar, das von jenen Ereignissen knochenweiß geworden war. Später war ihm sein toter Vater im Traum erschienen, genauso wie das Sumpfmädchen Winters, auch wenn er sie erst erkannt hatte, als sie sich im Kriegslager der Sümpfler begegnet waren. Seit er sie getroffen hatte, lebte er mit etwas, das die Grenzen seines Verstandes überschritt. Dieser Angriff und Winters’ Erscheinung sind miteinander verbunden. Rudolfo würde davon erfahren müssen.
    Als er an seinen wartenden General dachte, wurde Neb plötzlich rot. Er hob die Hand und strich Winters die verfilzten Strähnen ihres schmutzigen Haars aus dem Gesicht. Er räusperte sich. »Ich denke, wir sollten gehen«, sagte er. »Der edle Herr Rudolfo wartet darauf, mit dir darüber zu sprechen.«
    Sie sah Neb an. »Weiß er, dass du über mich Bescheid weißt?«
    Neb zuckte die Schultern. »Ich habe nie etwas verlauten lassen. « Dann fügte er hinzu: »Und er hat nie gefragt.« Aber natürlich weiß er es. Weshalb sonst hätte er ausgerechnet mich zu ihr schicken sollen?
    Winters nickte, dann stemmte sie sich langsam vom Boden auf und kam auf die Füße. Neb erhob sich mit ihr und wandte sich zur Tür.
    Ihre Hand griff nach seiner. »Danke, dass du derjenige warst, der mir diese Nachricht überbracht hat«, sagte sie mit leiser Stimme.

    »Das war meine Pflicht«, antwortete er.
    Ihre Blicke begegneten sich kurz, dann sah er, wie sie sich abwandte und darauf vorbereitete, vor ihre Leute zu treten. »Ich werde zuerst mit meinen Leuten sprechen«, sagte sie. »Ich gehe nicht zu Rudolfo, bis nicht jene, die Hanric geliebt und ihm gedient haben, von seinem Ende erfahren haben.«
    Neb nickte. Dann öffnete er die Tür und sah, wie Winters ihre Schultern straffte und das Kinn vorreckte, um die Pflicht zu erfüllen, die vor ihr lag.
    Ein säubernder Wind aus Blut; tilgendes kaltes Eisen. Neb erschauerte, und ihre Vorahnung überkam auch ihn. Es war ein elendes Gefühl, das über den Verlust von Hanric hinausging und sich unmittelbar ins Herz des Sumpfvolks bohrte. Etwas Dunkles und Brodelndes , dachte er. Und der Kummer auf Winters’ Gesicht gab einen Teil ihres Inneren preis.
    Sie weiß es , erkannte Neb.
    Dieses Leid war nur der Anfang.
    Jin Li Tam
    Der Himmel über der Verheerung von Windwir war wie eine rot verschmierte Schieferplatte, und Jin Li Tam konnte nicht sagen, ob es die aufgehende oder die untergehende Sonne war, die dieses Farbspiel schuf. Der Horizont im Osten und Westen verriet nichts
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