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Lobgesang

Titel: Lobgesang
Autoren: Ken Scholes
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Schatten hingen sie über Windwirs Knochen. »Ich verlasse dich nun«, sagte er in Worten, die wie flüssiges Metall aus seinem geöffneten Schnabel tropften. »Aber bald werde ich mich an den Augen deines Vaters gütlich tun.«
    Jin Li Tam sprang vor, und die plötzliche Bewegung verschlimmerte den Schmerz. Ihre Pantoffeln fanden in der Pfütze aus Blut und Fruchtwasser keinen Halt mehr, und sie geriet ins Taumeln.
    Lauthals brüllte Jin ihren Zorn hinaus, und plötzlich spürte sie Hände auf sich, die an ihr zerrten, sie schüttelten.
    »Edle Dame Tam?« Die Stimme war weit weg im Nordosten. »Meine Dame?« Jenseits der Stimme brach der Tumult der Warnstufe jäh ab, und Jin Li Tam öffnete die Augen.
    »Sind wir in der dritten Warnstufe?«, fragte sie das Mädchen, das sich gerade über sie beugte. Jin setzte sich auf und inspizierte rasch sich selbst und ihre Umgebung. Die Schmerzen waren echt, und unter der Decke spürte sie Nässe. Mit angehaltenem Atem schob sie die Decke zur Seite und warf einen Blick nach unten. Kein Blut, aber ihre Fruchtblase war tatsächlich geplatzt.
    Das Mädchen trat einen Schritt zurück und nickte. »Ja, meine Dame. Die dritte Warnstufe wurde ausgerufen. Aber das Gelände und die Residenz sind inzwischen sicher.«
    »Hat man uns angegriffen?« Vorsichtig rutschte sie zur Bettkante, das Gesicht vor Schmerzen verzogen, und griff nach dem bereitliegenden Kleid.
    Wieder nickte das Mädchen. »Ja, meine Dame. Die Späher an der Tür haben nichts Genaueres verraten.«
    Noch nicht, aber das wird sich ändern. Sie stand auf, spürte, wie
ihr das Blut in den Kopf stieg, und setzte sich wieder. »Hilf mir aufstehen.«
    Die Dienerin reichte ihr die Hände und lehnte sich zurück, um Jin aufzuhelfen. Sie streifte ihr Kleid über und zuckte zusammen. Das Mädchen sah beunruhigt aus, als es das nasse Bett entdeckte. »Soll ich die Flussfrau rufen?«
    Jin Li Tam nickte. »Ja. Ich glaube, es geht zu früh los.«
    Das Mädchen führte sie zu der Wand neben der Tür, und Jin stützte sich mit der Hand daran ab, während das Mädchen die Tür öffnete und den Kopf hinausstreckte, um nach einem Späher zu rufen.
    Jin hatte den Großteil des letzten Monats im Bett verbracht, und sie konnte spüren, wie schwach ihre Beine geworden waren. Ihr Kind war zu ruhig gewesen, hin und wieder hatte sie Schmierblutungen gehabt, und die Flussfrau hatte ihr Pulver dagelassen und Bettruhe verordnet. Sie hatte sich durch mindestens hundert Bücher gearbeitet, welche die Mechoservitoren aus dem Gedächtnis für die neue Bibliothek niedergeschrieben hatten, hatte noch den Geruch des Papiers und der frischen Tinte in der Nase.
    Sie war ein Tiger, der Käfige hasste.
    Aber der Ausdruck auf Rudolfos Gesicht, jedes Mal, wenn er sie sah, jedes Mal, wenn sie sich zusammensetzten und über ihren noch ungeborenen Sohn sprachen, reichte aus, um es zu ertragen.
    Auch das wird vorübergehen , sagte sie zu ihren schwachen Beinen und ihrem angeschwollenen Bauch, den Wellen der Übelkeit und der heftigen Abneigung gegen Gerüche, die sie vorher nie gestört hatten. Schon bald , sagte sie zu dem Käfig, in den sich ihr Schlafgemach verwandelt hatte.
    Bis zu jener Nacht, in der sie sich in den Zigeunerkönig verliebt hatte, jener Nacht, in der er dem Metallmann seinen Androfranziner-Talar zurückgegeben hatte, hatte Jin Li Tam die Möglichkeit,
Mutter zu werden, niemals in Betracht gezogen. In jenen Tagen hatte sie noch für ihren Vater gearbeitet, hatte sich mit Männern und Frauen eingelassen, die er für sie aussuchte, und ihre Rolle als Kurtisane und gelegentliche Beraterin genutzt, um ihren Teil zum Werk des Hauses Li Tam beizutragen, das den Fluss der Politik und strategischen Entscheidungen in den Benannten Landen lenkte.
    Versteckt in der Bibliothek ihres Vaters hatte es bis zu jenem Tag, an dem Vlad Li Tam seine Bücher Rudolfo für Isaaks Arbeit stiftete, eine weitere Bibliothek gegeben – ein winziges Zimmer, das sie nur ein- oder zweimal als kleines Mädchen gesehen hatte. Dort stand in dünnen, schwarzen Bänden in der verschlüsselten Handschrift des Hauses Li Tam die geheime Geschichte der Benannten Lande, geschrieben mit dem Blut und dem Schweiß ihrer Familie. Ihr Vater hatte die Bücher an dem Tag verbrannt, an dem Rudolfo ihn zur Rede gestellt hatte, aber der Fluss war bereits umgelenkt worden. Vlad Li Tam hatte ihren Verlobten geschaffen , hatte ihn in seinen jungen Jahren aus Trauer geformt, ihn mit Verlust
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