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Lobgesang

Titel: Lobgesang
Autoren: Ken Scholes
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über die Tageszeit, und die Sonne war nirgends zu sehen. Trübes Licht überflutete den Wald aus Knochen mit Blut und ließ die stille Oberfläche des nahegelegenen Zweiten Flusses schwarz werden. Fühler aus zartrotem Nebel krochen über den Boden und wurden von dem kalten Wind, der zwischen den Gebeinen umhertanzte und ein tiefes Summen ertönen ließ, zu kleinen Wirbeln verweht. Sie zitterte vor Kälte und
vor dem Anblick von Xhum Y’Zirs Werk. Ihr Atem stockte, und sie fragte sich, ob es für sie und ihr Kind noch sicher war, hier zu sein.
    In diesem Augenblick legte Jin Li Tam die Hand auf ihren angeschwollenen Bauch und wünschte sich, ihr Sohn möge strampeln, ein Lebenszeichen von sich geben.
    Ihr fiel auf, dass etwas nicht stimmte. Sie hatten die Toten hier begraben, Neb und Petronus, während um sie herum der Krieg getobt hatte. Es gab keinen Knochenacker mehr. Die Totengräber hatten sich darum gekümmert, dessen war sie sich sicher. Wer hat ihre Arbeit ungeschehen gemacht?
    Weit hinter sich hörte Jin ein Geräusch und wandte sich nach Nordosten. Schwach vernahm sie den Tumult der dritten Warnstufe aus der Richtung, in der die Neun Wälder lagen, hunderte von Meilen entfernt, hinter dichtem Wald, zerklüfteten Hügeln und dem weitläufigen Gräsernen Meer, das die verstreuten Waldinseln des Zigeunerkönigs umgab. Dunkle Wolken hingen in dieser Richtung, undurchdringlich und bedrohlich.
    Man braucht mich zu Hause , dachte sie. Aber die zweiundvierzigste Tochter von Vlad Li Tam war sich nicht sicher, wie sie überhaupt hierher gekommen war, und nun widersetzten sich ihre eigenen Füße allen Bemühungen, sie nach Hause zu tragen. Die Luft um sie herum wurde kälter, und ihr fiel auf, dass sie den dünnen, grünen Reitrock und die Bluse anhatte, die sie in jener Nacht vor so langer Zeit getragen hatte, in der Rudolfo in Sethberts Bankettzelt mit ihr getanzt hatte.
    Ein Sonnenaufgang wie Ihr gehört zu mir in den Osten , hatte er in jener Nacht zu ihr gesagt. Sie legte die Hände wieder auf ihren Bauch und stellte plötzlich fest, dass er sich flach und fest anfühlte. Sie blickte an sich hinab und sah ihren Rock, schwarz vor Blut. Warm und zäh lief es an ihren Beinen hinab und sammelte sich zu ihren Füßen.
    Als sie den Mund öffnete, um zu schreien, landete ein riesiger
schwarzer Rabe auf dem geborstenen Grundstein eines eingestürzten Gebäudes und legte den Kopf schief. Jin Li Tam schluckte ihren Schrei hinunter und zwang sich zu der konzentrierten Stärke, die ihr Vater seinen Söhnen und Töchtern grausam eingetrichtert hatte.
    Ein Bundrabe. Sie war nicht sicher, woher dieses Wissen kam, aber sie wusste es. Er war größer als jeder Rabe, den sie bisher gesehen hatte, mit auf- und zuklappendem Schnabel starrte er sie an. Sie sah, dass an einem seiner Füße das scharlachrote Garn des Krieges befestigt war, am anderen das Grün des Friedens. An der Art, wie er den Kopf hielt, erkannte sie außerdem, dass sein Genick gebrochen war, seine Federn waren scheckig und angesengt. Eines seiner Augen fehlte. Er krächzte sie an.
    »Du bist ausgerottet«, sagte Jin Li Tam langsam. »Und das ist ein Traum.«
    Der Schnabel öffnete sich, und eine blecherne, weit entfernte Stimme sickerte heraus: »Und es soll geschehen am Ende der Tage, dass sich ein säubernder Wind aus Blut erhebt und tilgende Klingen aus kaltem Eisen«, sprach der Bundrabe. »So sollen die Sünden des P’Andro Whym seine Kinder heimsuchen. So soll der Thron der Karmesinkaiserin errichtet werden.« Der Vogel hielt inne, hüpfte auf seinen Füßen erst zurück und dann wieder nach vorne, legte abermals den Kopf schief und fixierte sie mit seinem trüben, schwarzen Auge. »Du bist gesegnet unter den Frauen, und hohe Gunst empfängt Jakob, der Hirte des Lichts.«
    Die erste Welle des Schmerzes traf sie, und sie umschlang ihren Körper mit den Armen. »Fort mit dir, Bundrabe«, sagte sie und biss die Zähne zusammen, als ein neuerlicher Krampf ihren Bauch erfasste. »Deine Botschaft ist in diesem Haus nicht willkommen. « Sie war nicht sicher, woher die Worte kamen, aber sie raffte sie an sich, wiederholte sie laut und zwang ihre Füße, sie näher zu dem Vogel zu bringen, während sie die Hand hob. »Fort
mit dir, Bundrabe. Deine Botschaft ist in diesem Haus nicht willkommen. «
    Da tat der Bundrabe etwas, was einem Vogel nicht hätte gelingen dürfen, nicht einmal in einem Traum. Er lächelte. Dann breitete er seine Schwingen aus; wie lange
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