Lobgesang
er hatte gewusst, dass sie es nicht böse meinte. »Würdest du mich zur Braut nehmen, Nebios ben Hebda, und mir eine Zigeunerhochzeit mit Tanz und Musik ausrichten?«, hatte sie gefragt. »Würdest du das tun?«
Als sie nun den Mittelpunkt des Irrgartens erreichten, erwischte Neb sich dabei, wie er wieder daran dachte, nur sah er sich diesmal in den Sumpflanden, wie er sich unter ihrem Volk bewegte und versuchte, den Verlust von Hanric auszugleichen. Das war nicht ganz unlogisch, wenn er wirklich der Heimatsucher war. Und trotzdem flüsterte tief in seinem Inneren eine Stimme, dass dies nicht ihre Zeit war, ganz gleich, wie sehr er sich wünschte, ihr mit all seiner Kraft zu helfen.
Die Prozession hielt im Zentrum an, und zwei der größeren Männer schleppten die Meditationsbank zur Seite, während sich zwei weitere daranmachten, mit Spitzhacken den gefrorenen Boden aufzulockern, bevor die Schaufeln an der Reihe waren. Sie sangen leise weiter, während sie gruben, und Neb spürte, wie Winters’ Griff um seine Hand sich verstärkte. Er blickte auf sie hinab und sah, wie verbissen sie mit zusammengepressten Kiefern gegen die Tränen ankämpfte, die langsam in hellen Bahnen über ihre Wangen liefen. Sosehr er sich auch zusammenriss und sich dafür stählte, seinem Ersten Hauptmann gegenüberzutreten, drohten ihre Tränen auch ihn zum Weinen zu bringen, und er wandte sich ab. Stattdessen blickte er wieder auf das Rechteck, das sie im Boden aufhackten und aushoben, und seine Erinnerung trug ihn zurück zu einem weiten Gräberfeld auf einer zertrümmerten Ebene.
Als Petronus vorgeschlagen hatte, Windwirs Tote zu begraben, hatte Neb es für eine undurchführbare Aufgabe gehalten. Beinahe zweihunderttausend Seelen hatten sich dort befunden, und
ein jedes Skelett war durch Xhum Y’Zirs Blutmagie unversehrt zurückgeblieben, ein jeder Knochen eine Botschaft der Gewalt. Doch am Ende des Zweiten Sommers hatten sie ihre zerlumpte Armee von Totengräbern dort versammelt und den ganzen Herbst über bis in den Winter hinein gearbeitet und es im Frühling zu Ende gebracht. Und irgendwann in der Zwischenzeit hatte der vergammelte alte Fischer sich zum Papst ausgerufen und es Neb überlassen, die Toten zu begraben. Natürlich hatte er sein Bestes gegeben. Was hätte er auch sonst tun sollen?
Sein Vater war unter den Toten von Windwir gewesen.
In der Nacht, bevor Rudolfo und Petronus gekommen waren, um ihn in seine neue Heimat in den Neun Wäldern zu geleiten, war alle Arbeit getan gewesen und Neb hatte das stille Begräbnis der größten Stadt der Welt geleitet. Die Schar der noch verbliebenen Totengräber hatte sich auf dem Hügel über dem Ostufer des Zweiten Flusses versammelt, ein Lied über das Licht angestimmt, und als sie zu Ende gesungen hatten, ihren jungen Hauptmann gebeten, ein paar Worte zu sprechen.
Hier und heute, an diesem Grab, konnte Neb sich nicht an ein einziges von diesen Worten erinnern. Aber er hatte sie gesprochen, hatte das bestätigende Nicken und die Tränen der Trauer gesehen, der er Genüge getan hatte. Er hatte jedes Husten gehört und jedes Knirschen eines Stiefelabsatzes. Er konnte sich die Trauerrede nicht ins Gedächtnis rufen, und trotzdem war er froh, dass er sie gehalten hatte. Dennoch war es damals einfacher gewesen als jetzt, auch wenn er bei dem heutigen Begräbnis keine Aufgabe zu erfüllen hatte. Vielleicht war es die schiere Anzahl der Gräber von Windwir gewesen, die die Trauer und den Verlust damals so viel weniger greifbar gemacht hatte.
Vielleicht begreife ich es erst jetzt richtig , dachte er. Womöglich würde es auch noch dauern, musste in ihn hineinsinken wie ein beleibter Mann in ein Bad und erst mit der Zeit wirklicher werden, mit jedem Verlust, der noch folgte.
Oder vielleicht liegt es daran, dass wir tief drinnen ahnen, dass das, was Windwir zu Fall gebracht hat, der Welt nun auch Hanric genommen hat.
Dieser Gedanke überfiel ihn so plötzlich wie ein Blinzeln. Die Welt hatte sich am Tag des Bannspruchs gewandelt. Und sie hatte sich nicht wieder erholt. Die Staaten, die nicht von Bürgerkriegen zerrissen waren, standen im Konflikt mit ihren Nachbarn. Und nun hatte sich diese Gewalt bis hin zu Attentaten aufgeschaukelt. Der einzige blühende Ort in den Benannten Landen schienen die Neun Wälder zu sein, der einzige Lichtblick die Arbeit an der neuen Bibliothek und das schnelle Wachstum der Stadt, die sie umgab. Vor Windwir hatte Rudolfo über einen Winkel der Welt
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