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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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Bitten gerne nachgekommen, auch nachdem er ihr die Erlaubnis erteilt hatte, Baryk zum Mann zu nehmen und mit dem Kriegspriester in der Nähe des Stadtstaates zu wohnen, dem er den Großteil seines Lebens über gedient hatte.
    Viermal in fünfzehn Jahren hatte ihr Vater etwas von ihr verlangt. Beim letzten Mal war es ein Rezept für ihre Schwester gewesen, um die Zeugungsfähigkeit des Zigeunerkönigs zu gewährleisten – eine recht einfache Aufgabe. Jeder Auftrag war mit einigen wenigen Auskünften einhergegangen, und sie hatte sich gerne an die Arbeit gemacht. Und obwohl sie die letzte Münze ausgegeben hätte, die sie besaß, um ihrem Vater einen Gefallen zu tun, hatte er für jeden Auftrag eine großzügige Gegenleistung in die Wege geleitet.
    Aber dann war letztes Jahr jene dreifach verschlüsselte Nachricht eingetroffen, und Rae Li Tam hatte erkannt, dass ihr Vater zum ersten Mal auf etwas gestoßen war, das ihn veränderte, dass ihn Respekt und daraus erwachsende Angst zum Rückzug trieben. Nur wenige Wochen nach dem Eintreffen jenes schicksalhaften Vogels und eine kurze, aber leidenschaftliche Unterhaltung später, bei deren Höhepunkt sie zum ersten Mal ihre Stimmen erhoben hatten, seit sie ein Paar waren, hatten sie und Baryk gepackt, was sie unbedingt zum Leben brauchten, verkauft, was sich verkaufen ließ, und waren zum Sitz der Tam gereist, wo die Eisenschiffe gerade in der Bucht vor Anker lagen und ihre Fracht aufnahmen. Sie hatten beim Beladen geholfen, während ihr Vater, Vlad Li Tam, die Bücher mit dem Werk seiner Familie verbrannt und sich darauf vorbereitet hatte, aus den Benannten Landen zu fliehen.
    Oder hat er sich auf die Jagd begeben? , fragte sie sich.
    Vielleicht , dachte sie, traf beides zu.
    Nach sieben Monaten auf See, die sie mit gemächlichem, planmäßigem Vorankommen hinter sich gebracht hatten, war nun
dennoch etwas geschehen. Die Armada war auf die Hälfte reduziert, und obwohl ein Teil von ihr sich gezwungen sah, mehr darüber herauszufinden, wusste Rae, dass sie wohl kaum etwas darüber in Erfahrung bringen würde, was mit ihrem Vater und der übrigen Familie geschehen war.
    Rette, was zu retten ist. In diesen Worten lag eine erschütternde Endgültigkeit, und obwohl sie sich anstrengte, die Hoffnung nicht aufzugeben, ahnte sie, dass sie sich schon bald, wenn sie sicher auf See waren und Orten entgegenfuhren, die nur ihr bekannt waren, des Abends in ihre enge Kapitänskajüte auf dem neuen Flaggschiff der Familie Tam zurückziehen und sich dort einem Augenblick der Trauer hingeben würde, um ein Gedicht zu Ehren ihres verstorbenen Vaters zu verfassen.
    Noch während ihr Verstand diese Pläne entwarf, liefen ihre Füße über den Sand, und ihre Stimme erteilte Befehle. Das letzte Mal lag Jahre zurück, aber sie schlüpfte mühelos in diese Rolle, denn sie war das älteste von Vlad Li Tams noch lebenden Kindern, und sowohl sein erster Sohn als auch sein erster Enkel waren verschollen.
    Nachdem der Strand leer war und sie das Dorf noch einmal abgelaufen war, um sicherzugehen, dass niemand zurückgelassen wurde, ging sie zum letzten Boot, das in der Brandung wartete.
    Verwirrung spiegelte sich in den Gesichtern des Tagesvaters und seines Volkes. Trauer und Überraschung stiegen im Blick seiner jungen Nichte auf. Sie hatten mit einem längeren Aufenthalt gerechnet, mit weiteren Versuchen, jene Bande der Bundschaft beständig werden zu lassen, die Vlad Li Tam mit dem jungen Mädchen geknüpft hatte, und trotz aller Bemühungen hatte Rae es ihnen nicht verständlich machen können, denn sie hatte sich dagegen entschieden, sie zu beunruhigen.
    Wenn ihnen Gefahr droht , dachte sie, dann wird meine Warnung ihnen keine Hilfe sein. Am besten verlassen wir sie und verraten so wenig wie möglich.

    Inzwischen stand sie in der Brandung und spürte, wie das warme Wasser an ihren Füßen und Knöcheln leckte. Sie hob die Hand zum Abschiedsgruß und beobachtete, wie der Tagesvater und seine Sippe den Gruß erwiderten.
    Dann ließ sie sich von den jungen Männern im Langboot an Bord helfen und richtete ihren Blick nach Nordosten.
    Am Ende war es der Sand gewesen, der ihr offenbart hatte, wohin sie fliehen würden. An den einzigen Ort, an den in diesen Tagen niemand reiste.
    Heimwärts in die Benannten Lande , dachte sie, und dann um das Horn herum.
    Über ihr kreiste ein dunkler Schatten am Himmel. Er war größer und schwärzer als der einer Möwe und zog immer größere Kreise.
    Eine Art Rabe.

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