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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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und Verlust, über eine Trennung durch große Entfernung und darüber, sich am Ende trotzdem zu finden.
    Und plötzlich war das Lied verklungen; sie war allein und warf sich auf ihrem Lager neben einem flackernden Feuer herum.
    Ein Wolf heulte in den Hügeln unter ihr, und Winters zitterte.
    »Du bist weit weg von zu Hause«, sagte eine Stimme von irgendwo weiter unten auf dem Hang. Sie spürte, wie kalte Finger leicht über die Haut an ihrem Hals und ihren Armen streiften. Instinktiv griff sie nach ihrem Messer, dann entspannte sie sich, als sie Neb am Rande des Feuerscheins erblickte. Er trug seine verstaubte Uniform, und sein langes weißes Haar hing ihm in die Augen. Sie wollte ihn berühren und es beiseitestreichen.
    »Du auch«, sagte sie.
    Er blickte über die Schulter auf die zerschmetterten Lande, die sich hinter ihm erstreckten. »Ja.« Er trat näher, und das Feuer erlosch mit einem Flüstern. »Die Träume sind merkwürdiger geworden«, sagte er.
    »Dieser ist schön«, antwortete sie. Keiner von beiden musste eigens erwähnen, wie selten die schönen Träume inzwischen waren. Sie waren von Anfang an nur spärlich gewesen und seit Hanrics Tod noch seltener geworden. Sie klopfte auf das Lager neben sich. Neb zog seine Stiefel aus und kroch unter die Decke.
    »Morgen«, sagte sie, »werde ich den Hochgipfel erreichen und mich selbst ausrufen.« In ihrem Traum konnte sie ihn nicht sehen, aber der Weidenthron und sein schweres Tragegeschirr lagen irgendwo in der Nähe. Dessen war sie sich sicher. Sie spürte die Stellen, an denen ihr die Riemen im Lauf der langen Tage, die sie den Thron nach Norden zum Hochgipfel geschleppt hatte, in Schultern und Rücken geschnitten hatten.
    Neb regte sich neben ihr. »Ich bin in der Weitschreiterstadt. Ich habe bald Wache«, sagte er.
    Dann umschlangen sie sich ohne weitere Worte, und Winters spürte, wie seine Wärme auf sie überging und sie umfing. Sie
küssten sich nicht, obwohl sie das früher getan hatten. Und sie streichelten sich auch nicht, obwohl sie auch das schon getan hatten.
    Sie hielten sich einfach nur fest und fanden Trost in ihrer Umarmung.
    Und dann war sie wieder allein, steif und kalt, die Wolken verhüllten das Sternenlicht über ihr, während der Morgen den Himmel mit einem fleckigen Grau überzog. Sie lächelte bei der Erinnerung an ihren letzten Traum und raffte sich dazu auf, aus der Bettrolle zu kriechen und auf die Beine zu kommen, aber das Lächeln erlosch rasch.
    Ich werde ihn den ganzen Winter über nicht sehen , dachte sie. Sie wusste nicht, wie sie darauf kam, aber es war die Wahrheit. Unterschiedliche Welten riefen sie nun zu sich, aber eines Tages würden sie wieder vereint sein, wenn die Heimat sich erhob und sie lockte.
    Sie packte schnell zusammen, versetzte ihrem provisorischen Unterstand einen Tritt, damit er zusammenbrach, und schob Erde über das Feuer. Inzwischen waren Pfützen entstanden, wo der Schnee geschmolzen war, kleine Schlaglöcher im roten Lehmstaub des Drachenrückens.
    Stöhnend schob sie ihre zerschundenen Füße in die zerfledderten Stiefel und ließ das Geschirr über ihre Schultern gleiten, dann begann sie mit dem Weidenthron auf ihrem Rücken den Aufstieg. Sie spürte, wie die Lederriemen sich in ihre Haut schnitten, fühlte das Feuer unter ihren Fußsohlen und in ihren Knien, während sie sich vorwärtsschleppte.
    Drei Tage lang ertrug sie diese Bürde nun schon, und heute würde sie sich in der dünnen Luft über der Welt auf den Thron setzen und den Beginn ihrer Herrschaft verkünden.
    Als ihr Schatten hatte Hanric dies einst an ihrer Stelle getan – ein Dienst, den sie erst jetzt wirklich würdigen konnte. Sie segnete ihn in diesem Augenblick dafür und weinte, als sie weiterging.
Doch sie trauerte nicht, weil sie ihn verloren hatte. Ihre Tränen vergoss sie wegen der Mühen, die noch vor ihr lagen. Den Thron auf dem Rücken zu tragen, zu spüren, wie er in ihr Fleisch schnitt, darin fand sich ein Anklang der Last, die ihre zukünftige Rolle bedeutete. Ich bin die Sumpfkönigin.
    »Ich bin Winteria bat Mardic«, sagte sie tonlos. »Ich bin die wahre Erbin des Weidenthrons und die Träumende Königin meines Volkes.« Sie hatte die Worte geübt, bis sie ihr leicht über die Zunge gingen.
    Solange sie sich erinnerte, hatte sie sich diesen Tag ausgemalt. Sie hatte schon immer gewusst, dass es ein blutiger Tag werden würde, aber sie hatte sich einen langsameren Aufstieg vorgestellt, vielleicht im Frühling gleich

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