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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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Ein ungewöhnlicher Anblick, so weit draußen auf dem Meer, aber nicht unmöglich.
    »Du bist weit von zu Hause fort«, sagte sie zu dem Vogel. Als hätte er sie gehört, hörte der Vogel auf zu kreisen und schoss so schnell und gerade nach Süden wie ein Pfeil.
    Was für eine Beute suchst du? Und als sie sich diese Frage stellte, erkannte sie, dass sie sowohl den Vogel als auch ihren Vater damit meinte, der ebenfalls nach Süden geflohen war.
    Seufzend rückte sie auf der unbequemen Bank herum und widmete sich dem Netz aus Strategie und Irreführung, das sie nun anstelle ihres Vaters für ihre Familie ausbringen musste.
    Winters
    Die Kammern des Buches waren erstickend heiß, Winters musste ihr Hemd öffnen und benutzte den dünnen Stoff, um sich kühlere Luft auf die Brüste und in die Achselhöhlen zu fächeln.

    Draußen lag ihres Wissens nach frischer Schnee, und ein Sturm zog herauf. Wie wurde es hier drinnen der Jahreszeit zum Trotz nur so warm?
    Mit schnellen Schritten folgte sie dem spiralförmig abwärtsführenden Weg. Inzwischen war sie beim letzten Kapitel angekommen und musterte die mit einem Datum versehenen Buchrücken eines jeden Bandes. Sie streckte eine Hand aus und strich mit schmutzigen Fingern darüber.
    Wie viele Bände es inzwischen gab, wusste sie nicht mehr. Das Buch der Träumenden Könige war ein Wurm aus Papier, über eine halbe Meile lang, seine Bände in Regalen untergebracht, die in die steinernen Wände gehauen waren.
    Während Winters weiterging, wurde es immer heißer in der Höhle, und ein helles Licht schien von unten herauf. Sie hörte Musik und erkannte den Klang einer Harfe. Eine stechende Brise trieb ihr Tränen in die Augen.
    Ihre Stimme wurde von einem fernen Brüllen gedämpft, übertönte jedoch die fließende Melodie der Harfe: »Hallo?«
    Sie hörte einen leisen Pfiff und blickte nach links, wo die Höhle sich zu einer mitternächtlichen Wüste öffnete. Dort stand Neb unter einem blaugrünen Mond und sprach mit einem Mann, den sie nicht kannte, der ihr aber unversehens Angst einjagte. Er war schlank wie eine Weide und in einen zerschlissenen Talar gekleidet. Er trug eine Dornenbüchse – Winters wusste allerdings nicht, weshalb sie so genannt wurde oder wozu sie imstande war. Er wollte ihr Neb nehmen und ihn an einen Ort bringen, an dem ihre Träume ihn nicht erreichen konnten.
    Als wisse er das, hob Neb eine Hand und deutete auf den Mond, der sich in ein kaltes, totes Ding verwandelte – und in den weißen Leib dieser Mondleiche war das Zeichen geätzt, das sie erst kürzlich auf der Haut von Hanrics Mördern gesehen hatte.
    Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann erblickte
sie Isaak. Er lag aufgebrochen da. Der Mann, vor dem sie sich fürchtete, kauerte über ihm, die Hände bis zu den Unterarmen tief in der Brusthöhle des Mechoservitors vergraben, und machte sich dort zu schaffen.
    Sein Name ist Renard , rief eine Stimme von unten herauf. Sie wandte ihren Blick von Nebs Träumen ab und sah, wie sich ihre eigenen entfalteten.
    Die Stufen mündeten in eine Lesekammer, an deren anderem Ende die Treppe ihren gewundenen Weg abwärts fortsetzte. In dem Raum, der sich vor ihr öffnete, lagen Kissen auf dem Boden, Stühle standen wild verstreut herum. In der Ecke saß auf einem dreibeinigen Hocker ein Mann im Talar und spielte die Harfe.
    »Wer ist er?«
    »Einer, der dich zum Weinen bringen wird, ehe alles vorüber ist«, sagte Tertius. »Aber danach wirst du wieder lachen.«
    Winters betrat vorsichtig den Raum, ihre Hände strichen nun nicht mehr über die Buchrücken. »Du bist tot, Tertius.«
    »So heißt es«, sagte er. »Ja.«
    »Was passiert mit dem Buch der Träumenden Könige?«
    Tertius lächelte. »›Das Licht verzehrt und brennt dadurch umso heller‹«, zitierte er, und sie erkannte die Worte. Sie stammten aus den Verfehlten Evangelien, vermutlich von T’Erys Whym selbst.
    Noch während er sprach, leckten Flammen die Stufen herauf, und die Höhle begann zu brennen. Als stünde er unter Zwang, widmete sich der Gelehrte Tertius wieder seiner Harfe und ließ die Finger über die Saiten fliegen.
    Und in dem Augenblick, in dem ihr Traum sich noch einmal veränderte, erkannte Winters das Lied, das er spielte, auch wenn sie wie bei der Dornenbüchse nicht wusste, woher oder weshalb sie über dieses Wissen verfügte.
    Es war »Ein Lobgesang auf den Gefallenen Mond«, komponiert von Frederico, dem letzten der Weinenden Zaren. Es war ein
Lied über Liebe

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