Lockend klingt das Lied der Wueste
Vielleicht hatten vor den einfachen Hütten die Kinder gespielt, während die Männer die Schafe hüteten. Doch wie mochte das Haus ausgesehen haben, aus dem die kostbare Porzellanfigur stammte?
Als sie Schritte hörte, blickte sie auf und sah Karim auf sich zukommen. Mit einem Lächeln setzte er sich neben sie in den Sand. „Ich hatte vor, das Camp bei Sonnenaufgang zu verlassen, aber Professor Sanders bat mich, noch ein wenig länger zu bleiben“, erklärte er und blickte nachdenklich über die Wüstenlandschaft. „Das Leben muss für die Menschen damals sehr einsam gewesen sein, meinst du nicht auch?“
„Sie hatten ihre Familien, ihre Freunde. Und sie kannten nichts anderes. Bestimmt war es ein großes Ereignis für sie, wenn die Karawanen durchgezogen sind. Welche Wünsche und Träume sie wohl hatten, wenn sie sich mit den Kamelführern unterhielten?“
Karim lachte. Lisa schaute ihn verwundert an. Es war das erste Mal, dass sie ihn lachen hörte. „Was findest du daran so witzig?“
„Wie romantisch du die Dinge siehst. Vermutlich waren es hartgesottene Händler, die den Karawanenführern das letzte Hemd abknöpften, wenn sie um Wasser baten, und ihnen die Weiderechte für ihre Kamele zu einem teuren Preis verkauften.“
„Meine Version gefällt mir besser.“ Plötzlich fühlte Lisa sich in Karims Gegenwart seltsam gehemmt. Die Erinnerung an den Kuss, den sie getauscht hatten, wurde wieder in ihr lebendig. Sehnsüchtig wünschte sie, er würde sie abermals küssen.
„Ich werde mir das eine Ausgrabungsareal noch einmal ansehen und dann mit Ham zurückreiten“, sagte er stattdessen. Damit stand er auf und reichte ihr die Hand, um ihr auf die Füße zu helfen.
Sie bemühte sich, ihm ihre Enttäuschung nicht zu zeigen. Was hatte sie erwartet? Dass er ihr sagte, er wolle sie wiedersehen? Dass er sie tatsächlich in die Arme nahm und küsste?
Mit einem intensiven Blick aus seinen dunklen, geheimnisvollen Augen schaute er sie an. Lisa spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Dann packte er sie unvermittelt bei den Schultern und zog sie näher zu sich heran.
Im nächsten Moment spürte sie schon seine Lippen auf ihrem Mund. Mit einem kleinen Seufzer schloss sie die Augen und genoss das sinnliche Spiel seiner Zunge. Ein heftiges Begehren erfüllte sie. Verlangend drängte sie sich enger an ihn. Sie wollte seinen Körper an sich spüren und eins mit ihm sein, wollte, dass er sie irgendwo hinbrachte, wo sie beide allein waren.
Hastig machte sie sich wieder von ihm frei. Es war helllichter Tag, und sie standen neben dem Gemeinschaftszelt. Jeden Moment konnte jemand vorbeikommen. Sie war sich auch nicht sicher, was sein Kuss zu bedeuten hatte. War es lediglich ein Abschiedskuss? Oder mehr?
„Lisa …“
„Nein, bitte sag jetzt nichts“, bat sie mit gepresst klingender Stimme. „Ich weiß, es ist Zeit für den Abschied. Danke nochmals für alles, was du für mich getan hast, Karim. Wie du selbst bereits sagtest, kann aus uns beiden niemals etwas werden.“ Der Schmerz war fast unerträglich.
Sie stürzte förmlich zurück ins Gemeinschaftszelt. Dort stellte sie ihr benütztes Geschirr in die dafür vorgesehene Wanne und horchte nach draußen, ob Karims Schritte sich entfernten.
„Brauchen Sie etwas?“, fragte die junge Studentin, die an diesem Morgen zum Geschirrspülen eingeteilt war.
„Ähm – nein. Ich habe nur nachgedacht.“ Als Lisa das Zelt verließ, war Karim verschwunden. Sie konnte noch die Hufschläge seines Pferdes hören, doch sie hielt den Blick absichtlich gesenkt, als sie zum Arbeitszelt hinüberging.
Karim lenkte sein Pferd zum Camp hinaus. Er gehörte nicht zu den Männern, die bei einer Frau falsche Hoffnungen wecken wollten, deshalb hatte er Lisa auch nicht zum Abschied geküsst. Jede Frau hätte zu Recht geglaubt, er wäre näher an ihr interessiert, besonders nach dem zweiten Kuss.
Aber das war er nicht. Die große Liebe war für ihn vorbei. Er musste wieder in sein gewohntes Leben zurückkehren und Lisa aus seinem Gedächtnis streichen. Dass sie nach seinem Kuss regelrecht davongelaufen war, zeigte ihm, dass sie mehr Verstand besaß als er.
Trotzdem verspürte er Bedauern. Er hatte es wundervoll gefunden, mit einem Menschen in der Wüste zu sein, der seine Liebe für das Land seiner Väter teilte. Nura war nie mit ihm gekommen, wenn er die Einsamkeit suchte. Sie hatte der Wüste nichts abgewinnen können. Bei dem Gedanken an sie stellte er zu seiner
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