Lockend klingt das Lied der Wueste
perfekt gewesen war. Er erinnerte sich noch gut an die Auseinandersetzungen mit ihr. Meist war es nur um Kleinigkeiten gegangen, doch beide hatten ihren Standpunkt hartnäckig vertreten. Oft war Nura tagelang beleidigt gewesen. Er hatte sich über sie geärgert, aber er hatte sie immer geliebt.
Über einen Punkt waren sie sich leider nie einig geworden. Karim hatte sich nach Kindern gesehnt, doch Nura wollte das Leben erst ausgiebig genießen. Die Kinder im Beduinendorf hatten ihn an die glücklichen Zeiten erinnert, die er mit seinen Eltern und Geschwistern verbracht hatte, als er noch klein gewesen war.
Gegen seinen Willen fühlte er sich stark zu Lisa Sullinger hingezogen, selbst wenn die Sache aussichtslos war. Nicht nur, dass sie Ende des Sommers in die Vereinigten Staaten zurückkehren würde, sie beide kamen zudem aus völlig verschiedenen Welten.
Und dennoch faszinierte sie ihn. Sie war so begeisterungsfähig und schien sich noch über einfache Dinge freuen zu können. Auch ihr Optimismus und ihre Lebensfreude waren bemerkenswert, wenn man bedachte, welch schwierige Bedingungen sie hatte meistern müssen, nachdem ihre Eltern so früh gestorben waren.
Ein Prickeln durchlief seinen Körper, als Lisa seinen Arm berührte. Schon lange hatte er nicht mehr so empfunden. Es war ein erregendes Gefühl, trotzdem wollte er keine Affäre mit ihr anfangen.
„Ich denke, wir sollten zurückgehen“, sagte sie. „Es ist spät geworden, und wir müssen noch sehen, wo man dich unterbringen wird.“
Karim blickte zum Sternenhimmel empor, dessen Funkeln alles künstliche und von Menschen erschaffene Licht übertraf. Die Wüste rief. Er sollte gehen. Es gab keinen Grund zu bleiben.
„Professor Sanders hat mich eingeladen, in seinem Zelt zu übernachten. Denkst du, er tat es mit dem Hintergedanken, mich zur Verlängerung des Termins zu überreden?“
Lisa schüttelte den Kopf. „Vermutlich hat er es dir nur deshalb angeboten, weil es das bestausgestattete Zelt im ganzen Camp ist. Aber mit deinem Luxuszelt ist es natürlich nicht zu vergleichen.“
Seite an Seite gingen sie ins Camp zurück. Morgen früh, nachdem er Lisa ein letzes Mal gesehen hatte, würde er zurückreiten.
7. KAPITEL
Am nächsten Morgen kam Lisa alles wie ein Traum vor. Hatten Karim und sie sich tatsächlich geküsst? Gestern Abend war sie lange nicht eingeschlafen. Immer wieder hatte sie sich den wundervollen Augenblick ins Gedächtnis gerufen und davon geträumt, dass er sie abermals küssen würde.
Später als sonst ging sie zum Frühstück und stellte überrascht fest, dass Karims Pferd noch in dem provisorischen Korral stand. Sie hatte geglaubt, er wäre längst fort.
Vor dem Gemeinschaftszelt sah sie ihn dann mit Professor Sanders zusammen. Beide betrachteten etwas, das der Professor in der Hand hielt. Abrupt blieb Lisa stehen, was Karim veranlasste, den Kopf zu heben. Seiner Miene war nicht anzusehen, was er bei ihrem Anblick empfand. Bedauerte er, was gestern Abend zwischen ihnen geschehen war?
Professor Sanders wandte sich zu ihr um. „Ah, Lisa. Sie kommen wie gerufen. Wir haben eine weitere Porzellanfigur gefunden, diesmal ein Tier. Denken Sie, dass es ein Tiger ist?“
Lisa nahm die kleine Figur in die Hand und betrachtete sie. Sie war wunderschön gearbeitet. Im Geist sah sie eine Frau vor sich, die vor vielen hundert Jahren gelebt hatte und diese Figur als Geschenk von ihrem Liebsten bekommen hatte.
Sie hob den Blick und begegnete dem von Karim. Einen Moment lang stellte sie sich vor, ein so kostbares Geschenk von ihm zu erhalten. Sie würde es hüten wie einen Schatz und sich nie mehr davon trennen, wo auch immer sie hinginge. Ein kleines Symbol ihrer Liebe.
Vorsichtig reichte sie dem Professor die Figur zurück. „Und Sie haben keine Idee, woher sie stammen könnte – China oder Indien? Könnte es ein Geschenk oder ein Zahlungsmittel gewesen sein?“
„Das wird sich vermutlich niemals feststellen lassen. Aber nun haben wir schon zwei Porzellanfiguren gefunden, in einer Gegend, in der das Porzellan nicht bekannt war. Offenbar wurden sie von den Karawanen hierher gebracht.“
Nachdem sie sich noch eine Weile darüber unterhalten hatten, betrat Lisa das Gemeinschaftszelt. Sie nahm sich etwas zu essen und setzte sich draußen in den Schatten, denn drinnen war es unerträglich heiß. Während sie ihr Croissant aß, versuchte sie sich vorzustellen, wie die Menschen vor fünfhundert Jahren an diesem Ort gelebt haben mochten.
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