Lockende Kuesse
Frühling kam, wurde Kitty niedergeschlagen und lustlos. Sie sehnte sich von Herzen nach einem Stück ihres grünen Irlands. Der lange, harte Winter hatte sie ausgezehrt. Ihre Wangen waren nicht länger rosig, und sie war nur mehr ein bleicher Schatten ihrer selbst. Ihr Großvater machte sich allmählich Sorgen. »Terry, ich will, dass du am Sonntag mit deiner Schwester rauf ins Moor gehst. Ihr zwei braucht frische Luft und einen klaren Kopf. Weg mit den alten Spinnweben.«
Am Sonntag nahmen sie ein wenig Brot und Käse und eine Flasche Wasser und machten sich auf den Weg in die Belmont Moors.
»Worauf hast du Lust?«, fragte Terry und blickte bewundernd über einen kleinen See, der - ein wenig großspurig - Blaue Lagune genannt wurde.
»Ich will auf diesen Steinmauern entlanglaufen«, rief Kitty eifrig.
»Das ist doch doof. Und gefährlich noch dazu!«, sagte Terry lachend.
»Ich weiß, aber diese Mauern erinnern mich an Irland. Und wenn's mir Freude macht, wieso sollte ich's dann nicht tun?«
Er hob sie auf eine der Mauern, und sie rannte wie der Wind darauf entlang, ohne ein einziges Mal ins Stolpern zu geraten, obwohl viele Steine locker waren und sich gefährliche Lücken auftaten, wo einige Brocken bereits herausgebrochen waren. Sie kam zu einem großen Weißdornbusch, der in voller Blüte stand und sog den süßen Duft so tief ein, als könne sie nie genug davon bekommen. Ihr Blick fiel nach unten, und zu ihrer Überraschung sah sie ein junges Liebespärchen im hohen Gras liegen. Als ihr klar wurde, dass es die beiden hemmungslos miteinander trieben, rannte sie, so schnell sie konnte, wieder zu Terry zurück.
»Wir gehen besser auf dem Weg hier zurück. Dort oben im Gras liegt ein Pärchen.«
»Oh, was machen die denn?«, fragte Terry.
»Na, was glaubst du wohl, was sie machen?«, erwiderte sie irritiert.
»Ach, das?«
»Es ist einfach widerlich! Und sie hat auch noch so ausgesehen, als ob's ihr gefallen würde.«
»Na ja, weißt du, Kitty, in den kleinen Häusern hat man nicht viel Ruhe. Und was soll ein Paar machen, das verliebt ist und nicht weiß, wo's hin soll?«
Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Hast du je ein Mädchen dazu gezwungen?«
»Die meisten muss man gar nicht zwingen. Viele Mädchen mögen's, weißt du. Ja, sie sagen sogar, dass mit denen, die's nicht mögen, was nicht stimmt.«
Das war ein völlig neuer Gedanke für Kitty, und sie grübelte wieder und wieder darüber nach. Vielleicht hatte das Mädchen es ja für Geld gemacht, aber sie wies den Gedanken rasch wieder von sich. Wenn ein Mann einer Frau Geld anbot, dann wollte er's sofort haben; nur ein Liebespärchen käme auf die Idee, sich dafür ein romantisches Plätzchen zu suchen.
Im Laufe des Sommers wurden Kitty ein, zwei Webstühle mehr anvertraut. Zuerst fürchtete sie, nie mit den wild ratternden Maschinen mithalten zu können, aber sie war flink und helle, und schon bald erschien es ihr, als hätte sie nie etwas anderes gemacht.
Kitty hatte kein angenehmes Leben, aber sie hielt eisern an ihrer guten Laune fest und freute sich jede Woche auf den Sonntag, an dem sie sich ausruhen und ein wenig vergnügen konnte. An den übrigen Tagen verrichtete sie ihre Arbeit, so gut sie konnte.
Als sie schließlich siebzehn wurde, merkte sie, dass der Gedanke an Sexualität ihr weniger erschreckend erschien als zuvor. Seit fast zwei Jahren lebte sie nun in einem Klima, in dem sexuelle Beziehungen offen diskutiert und akzeptiert wurden. Es war schwer, sich so etwas wie Romantik überhaupt noch vorzustellen.
Ein weiterer Winter kam und ging und forderte seinen Tribut. Kitty war mittlerweile schrecklich dünn, und ihre Augen waren so riesig, dass sie ihr Gesicht zu verschlingen schienen. Ihre vormals durchaus kurvenreiche Figur war fast verschwunden. Ihre Brüste waren klein geworden, und ihr Hintern schmal und flach. Die langen Arbeitsstunden und die karge Ernährung hatten Haut und Haaren den Glanz genommen, und auch ihre überquellende Vitalität war verschwunden. Sie war zwar schlagfertiger als früher, und ihr Verstand funktionierte blitzschnell, aber körperlich wurde sie so schwach, dass ihr immer öfter schwindelte.
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10
Patrick wollte Kitty nach dem Tod seines Vaters unbedingt finden. Er befragte Mrs. Thomson und die anderen Diener, doch entweder konnten oder wollten sie ihm nicht sagen, wo sie sein könnte. Da Patrick keine Ahnung hatte, dass Kitty und Terrance Verwandte in Bolton besaßen, war es
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