Lockende Kuesse
Irin.«
Die anderen spitzten die Ohren. Die Frau musterte sie mitleidig und sagte: »Tut mir Leid, aber Sie würden überhaupt nicht hierher passen. Außerdem weiß doch jeder, dass alle irischen Mädchen hässlich sind!«
Kitty hatte mit einem Mal einen Kloß im Hals und musste gegen die Tränen ankämpfen. Wild dachte sie, bei Gott, die werden mich nicht heulen sehen. Dann musterte sie jeden einzelnen von oben bis unten und sagte. »Nun, in diesem Fall können Sie mich mal am Arsch lecken und zwar gleich!« Sie fuhr herum, raffte rasch ihr Kleid auf und zeigte ihnen ihr wohl geformtes Hinterteil. Dann verließ sie mit stolz gerecktem Haupt den Laden.
»Wirst dich leider bei einer von den O'Reilly-Webereien bewerben müssen, fürchte ich. Sind die einzigen, die Iren einstellen«, sagte Ada, als Kitty wieder zu Hause war.
»Darf ich mich Kitty Blakely nennen, wenn ich mich um eine Stelle bewerbe? Ich will nicht, dass die O'Reillys erfahren, wo ich bin.«
»Aber sicher, Mädel«, entgegnete Ada müde.
Kitty ging zum Falken und wurde prompt im Knüpfraum eingestellt. Das Erste, was sie tun musste, war, abermals zu Onkel Joe's zu traben und dort ihr gelbes Musselinkleid, die Schuhe und ihren grauen Mantel zu versetzen. Sie kaufte sich stattdessen eine blau-weiß gestreifte Arbeitsschürze und ein Paar Schnürstiefel.
Zitternd vor Nervosität betrat sie den Knüpfraum. Kettbäume hingen von langen Tischen. Man zeigte ihr, wie man die Kettfäden gleichmäßig verknüpfte. Das war eine leichte Aufgabe; da die Qualität der Wolle jedoch meist schlecht war und die Fäden dünn und brüchig, kamen die Gewebe in eine Schlichtmaschine und wurden anschließend zwischen Pressrollen getrocknet, was die Löcher und die dünnen Stellen zwar beseitigte, die Ränder der Gewebe jedoch steif und scharfkantig machte. Noch bevor der Tag zu Ende war, waren Kittys Fingerspitzen aufgerieben und blutig. Der Kettbaum, an dem Kitty arbeitete, bekam Blutflecken, und als der Prüfer auftauchte und das sah, erklärte er ihre Arbeit sogleich als unbrauchbar und sie erhielt keinen Pfennig dafür. So begann ein neuer Lebensabschnitt für Kitty, ein Lebensabschnitt, in dem sie nur an den Wochenenden Tageslicht sah. Der Wächter ging um fünf Uhr durch die Gassen und klopfte mit seinem langen Holzstock an die Schlafzimmerfenster, um die Leute aufzuwecken, die dann in einem müden Strom eine halbe Stunde später zu den Webereien stapften. Drinnen wurde Kitty vom Ö lgestank der Maschinen meist erst einmal schlecht und vom lauten, dröhnenden, unaufhörlichen Geklapper der Webstühle bekam sie Kopfschmerzen, bis sie lernte, den Lärm zu ignorieren. Überall herrschte eine drückende Schwüle, da bei der Stoffherstellung Feuchtigkeit unbedingt nötig war, damit die Fäden nicht brüchig wurden und abrissen. Es dauerte nicht lange, und Kitty wurde in den Webschuppen befördert. Sie half dort einer erfahrenen Frau, die vier Webstühle beaufsichtigte. In dem riesigen Saal standen Hunderte von automatischen Webstühlen, die rasend schnell vor sich hin ratterten. Kitty war ganz eingeschüchtert von dem Lärm und den hin-und herfliegenden Schussspulen. Die Gassen zwischen den Webstühlen waren so eng, dass man sie warnte, immer mit dem Rücken zu den Maschinen hindurchzugehen, niemals mit dem Gesicht. Es war eine unglaublich schmutzige Luft, sodass sie, wenn sie nach ihrer Zwölf-Stunden-Schicht nach Hause kam, immer erst ihre Kittelschürze und ihr Haar auswusch. Auch achtete sie sorgfältig darauf, täglich ihre schwarzen Strümpfe zu waschen, da ihr aufgefallen war, dass die Beine der meisten Mädchen mit Pickeln übersät waren. Ihre Aufgabe war es, die leeren Schussspulen wieder aufzufädeln. Sie hatte bemerkt, dass viele Mädchen dies mit dem Mund machten und den Faden durchs Fadenauge saugten. Das ging zwar schneller als mit den Fingern, doch konnte Kitty sich einfach nicht dazu durchringen. Zum einen waren die Fäden mal in dieser, mal in jener Farbe eingefärbt, sodass der Mund ganz fleckig wurde, und zum anderen war Kitty aufgefallen, dass die Mädchen, die mit dem Mund einfädelten, verfaulte Vorderzähne hatten. Die erste Stunde des Arbeitstages verging gewöhnlich in einer dumpfen, schweigenden Erstarrung, die jedoch allmählich zunehmender Fröhlichkeit wich. Die Maschinen waren zwar viel zu laut für eine Unterhaltung, doch hatten die Mädchen im Laufe der Zeit eine Zeichensprache entwickelt, die aus Zwinkern, Nicken und Gesten
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