Lockende Versuchung
verlorene Zeit aufholen zu wollen und schleicht um Colonel Harcourts vorwitzige Gemahlin herum. Als ich mich weigerte, ihn aus seiner neuesten finanziellen Kalamität herauszuhelfen, hatte er doch die Stirn, mir anzudrohen, er werde Bayard Hall verkaufen, um seine Schulden zu bezahlen. Aber es ist nicht Laurence, der mir Kopfzerbrechen verursacht, denn ich habe beschlossen, meine Hände in Unschuld zu waschen, was ihn betrifft, wenn er nicht endlich erwachsen wird.“
„Das ist wirklich das Beste für dich“, stellte Julianna zufrieden fest und ließ sich in den nächstbesten Stuhl sinken. Seit ihrem Einzug in eines der Gästezimmer waren sie zu dem verwandtschaftlichen Du übergegangen. „Aber wenn es nicht dein leichtfertiger Bruder ist – was veranlasst dich dann zu so ernstem Grübeln?“
Vanessa sah tiefsinnig in ihr leeres Glas. „Ich denke über einen Heiratsantrag nach.“
„Wirklich? Kenne ich den Mann?“ Julianna bemühte sich, gleichgültig zu erscheinen, obwohl ihr das Herz bis zum Halse klopfte.
„Es ist Clive Farraday.“
Überrascht hob Julianna den Kopf. Clive Farraday war ein gut aussehender, ruhiger Mensch mit freundlichen Augen. In den letzten Wochen war er ein häufiger Gast in Vanessas Haus gewesen. Doch bis jetzt hatte sich die Countess kaum jemals dazu herabgelassen, auch nur seine Existenz wahrzunehmen.
„Ich habe gehört, er soll sehr vermögend sein“, sagte Julianna mit einem erleichterten Lachen. „Vielleicht kauft er dir Bayard Hall als Hochzeitsgeschenk.“
Vanessa streifte sie mit einem mild tadelndem Blick. „Das klingt zu sehr nach mir, Julianna. Du solltest diese Art nicht zu sehr kultivieren. Und mache dich nicht über Clive lustig.“ Halb zu sich selbst fügte sie leise hinzu: „Er ist ein sehr lieber Mensch.“
„Nun, wenn du ihn magst, was gibt es da viel zu überlegen. Dann nimm doch seinen Antrag an.“
„Das sagt sich so leicht. Spring von der Klippe … wirf dich vor ein durchgehendes Pferd …“
„Deine Vergleiche haben nicht viel Sinn, Vanessa. Vielleicht hättest du den Brandy nicht so hinunterstürzen sollen. Wenn du für Mr Farraday nichts übrig hast, dann gib ihm eben einen Korb.“ Die monatelang im Zaum gehaltene Erbitterung brach sich plötzlich Bahn und machte Juliannas Stimme scharf.
Vanessa wurde blass. „Ich wäre dir sehr verbunden, verehrte junge Dame, wenn du mir gegenüber einen anderen Ton anschlagen würdest. Du hast im übrigen gut reden. In Kürze wirst du mit der großen Liebe deines Lebens vor den Altar treten und ins Paradies davonsegeln.“
„Er ist aber nicht die große Liebe meines Lebens.“ Ohne es zu wollen, waren diese Worte über Juliannas Lippen gekommen.
Vanessa hob die gepflegten Brauen. „Und warum machst du dann allen Beteiligten diese Mühe, um für eine neue Ehe frei zu werden?“
Nun da es einmal gesagt war, musste Julianna wohl auch weiterhin Rede und Antwort stehen. Niedergeschlagen ließ sie den Kopf sinken. „Weil er mich doch haben will.“ Und mehr an sich selbst gerichtet denn an Vanessa fügte sie flüsternd hinzu: „Und Edmund nicht.“ Es klang wie ein herzzerreißendes Seufzen.
„Die Frage ist hier: was willst du eigentlich?“, stellte Vanessa nüchtern fest.
„Das dürfte ohne Bedeutung sein, da ich das, was ich möchte, doch nicht bekommen kann.“
Vanessa streckte den Arm aus, umfasste Juliannas Kinn und hob es empor. „Also Fehlschlag auf ganzer Linie“, sagte sie sanft. „Nun, zum ersten: es hat sehr große Bedeutung, was du möchtest. Die Gefühle von Edmund und Crispin kannst du weder genau kennen noch beherrschen. Deshalb …“
„… sei dir selbst treu …“ In Juliannas Ton lag beißender Sarkasmus.
„Ein abgedroschener Rat, ich weiß“, Vanessa zuckte die Schulter, „aber nichtsdestoweniger vernünftig. Wenn du deinem Herzen nicht treu bist, wie kannst du es dann einem anderen gegenüber sein? Du wirst Crispin kaum glücklich machen, wenn du dich so elend fühlst.“
„Vielleicht werde ich mich nicht immer so fühlen. Wenn dieses widerliche Annullierungsverfahren erst vorüber ist und wir dann immer beieinander sind …“
„Glaubst du das wirklich?“
Julianna wich Vanessas mitleidigem Blick aus und schüttelte wortlos den Kopf.
„Ich auch nicht.“
„Aber es ist jetzt zu spät, um noch etwas ändern zu können.“
„Für die Liebe ist es nie zu spät. Das hast du mir selbst erklärt.“
„Ich weiß nicht, was du damit sagen willst, Vanessa. Habe
Weitere Kostenlose Bücher