Lockende Versuchung
und machte dann einen ausgesprochen missvergnügten Eindruck.
„Meine Verwandten beehren Marlwood wieder einmal mit ihrer Anwesenheit, und wir sind heute Abend zum Dinner in Bayard Hall eingeladen. Ich muss schon sagen, sie vergeudet wahrhaftig keine Zeit“, sagte er spöttisch.
„Sie?“
Er warf einen Blick zur Decke. „Ja, sie. Vanessa“, erwiderte er und fügte in einem nasalen Alt und einer übermäßig exakten Aussprache hinzu: „Die verwitwete Countess of Sutton-Courtney.“ Nach einem kurzen Auflachen erklärte er, wieder in seiner normalen Stimmlage: „So lautet nämlich ihr korrekter Titel. Die Einladung trägt zwar Laurences Unterschrift, aber ich bin sicher, dass Vanessa dahintersteckt. Dieser Schwächling steht nämlich genauso unter dem Pantoffel seiner Schwester wie früher unter dem seiner Mutter.“
Ohne auf seinen verächtlichen Ton einzugehen, erkundigte sich Julianna neugierig: „Dieser Laurence ist doch der vermeintliche Zwilling von Crispin, nicht wahr?“
„Manche sehen eine Ähnlichkeiten zwischen den beiden. Ich aber …“, Sir Edmund hob die Schulter, „… ich finde eine solche Behauptung reichlich übertrieben. Soll ich Vanessa ärgern und mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns absagen?“
„Oh, Edmund Fitzhugh“, rief Julianna erbost, „wollt Ihr Eure Verwandten ärgern oder mich? Selbstverständlich werden wir hingehen.“
„Wie du wünschst.“ Sir Edmund verneigte sich übertrieben höflich. „Aber sage hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Und denke daran, dass es in ihrer Gegenwart erforderlich ist, dass wir Du zueinander sagen – was wir im übrigen schon längst hätten tun können.“
Nach dem Frühstück begab sich Julianna nach Marlwood, um die Pfarrersfrau bei ihrem Rundgang zu begleiten, während Edmund sich sein Pferd für einen Ausritt satteln ließ. Er schlug einen langsamen Schritt an, da er die Stute bei der andauernden Hitze nicht überfordern wollte. Ohne Julianna vor sich im Sattel kam er sich ziemlich verlassen vor, doch er hatte es in letzter Zeit mit dem Hinweis auf die drückenden Temperaturen immer wieder vermieden, sie mitzunehmen. Ihre körperliche Nähe, ihr Duft, ihr Haar, das der Wind ihm ins Gesicht wehte, stellten seine eiserne Selbstbeherrschung auf eine zu harte Probe.
Seit er seine Liebe zu Julianna erkannt hatte, war es vorbei mit seiner Gelassenheit, und die Wiederkehr seiner Lebenskraft verschlimmerte die Situation nur noch mehr. Auf einmal nahm er in Julianna nur noch die Frau wahr, die mit ihrem geschmeidigen Gang und den einladenden Lippen sein Verlangen unbewusst schürte.
Der Anblick der leichtbekleideten schlafenden Julianna, vieltausendmal verführerischer als die Elfenkönigin seiner Träume, hatte ihm den Atem stocken lassen. Lange Zeit hatte er reglos im Wasser gestanden und sich vorgestellt, wie es sein könnte, sie in die Arme zu nehmen, zu lieben mit aller Leidenschaft …
Als Julianna dann ihre bezaubernden Augen öffnete, hatte er der Versuchung, sich ihr zu nähern, nicht mehr widerstehen können. Zum Glück war dann die Hirschkuh erschienen. Andernfalls hätte er wohl Julianna in dem Versteck der Weidenlaube genommen, hätte ihren Widerspruch mit Küssen erstickt und sich ihre Abwehr als Ausbruch ihrer Gefühle gedeutet.
Ihre späteren Worte dann hatten ihn tiefer getroffen, als er sich selbst zugeben mochte. Siefand ihn „in gewisser Weise ganz erträglich“, und sah in ihm nicht den Mann, dessen Kräfte wieder in voller Blüte standen. Für sie war und blieb er wohl der bedauernswerte, von Tropenfiebern gepeinigte Patient. Sie sorgte für ihn in derselben Weise wie für die Kranken und Hilfsbedürftigen der Gemeinde und hielt es für ihre Pflicht Crispin gegenüber. Wenn er nicht die beiden Menschen, die er am meisten auf dieser Welt liebte, betrügen wollte, musste er wohl seine leidenschaftlichen Gefühle im Zaume halten.
Das war auch der Grund dafür gewesen, dass er seine Verwandten zum Kommen aufgefordert hatte, ohne es natürlich Julianna gegenüber einzugestehen. Eine so lebhafte Person wie Vanessa würde eine willkommene Ablenkung sein. Wenn sie nur ihren Bruder nicht mitgebracht hätte! Mit seinem Äußeren, das viel zu attraktiv als gut für ihn war, stiftete er immer Unheil bei Frauen, gewollt oder ungewollt.
Für Juliannas Ungeduld verging der Tag erfreulich schnell. Sie hatte mehrere Stunden mit Arabella verbracht, denn die Hitze der vergangenen Wochen hatte vor allem den Alten und
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