Lockende Versuchung
war.
Bedächtig schüttelte Mr Tully den Kopf. „Das möchte ich nicht, Mr Brock. Das möchte ich ganz und gar nicht.“
In der frischen Luft schmeckte der Imbiss, den Laurence aus Bayard Hall mitgebracht hatte, noch einmal so gut.
„Noch etwas Ale, liebe Cousine?“ Er hielt Julianna den Krug hin. „Was für ein wunderbarer Tag heute für unseren Ausflug! Seit meiner Kinderzeit war ich nicht mehr hier, aber es hat sich kaum etwas verändert. Soll ich Euch nun die versprochene Geschichte von dem wahnsinnigen Abt erzählen?“
„Spukt er etwa hier?“, erkundigte sich Julianna. „Wie gruselig!“
„Oh, die Geschichte ist nicht gruselig, sondern eher romantisch. So hört denn: Der junge Abt mit dem Gesicht eines gefallenen Engels hatte nämlich die ungehörige Gewohnheit, des Nachts unter den Fenstern junger Mädchen zu erscheinen und sie zu einem Stelldichein zu verführen. Daer so schön war, konnte keine ihm widerstehen. Das ging so eine Zeit lang, bis sich immer mehr Mädchen aus der Umgebung in der Hochzeitsnacht als entjungfert erwiesen und schließlich eine von ihnen die ganze unglaubliche Geschichte gestand. Als daraufhin eine Schar junger Männer vor dem Klostertor erschien, um den sündigen Abt zur Rechenschaft zu ziehen, stürzte sich dieser vom Glockenturm. An der Stelle, wo er aufgeschlagen ist, soll nie wieder eine Blume, ja, nicht einmal ein Grashalm gewachsen sein.“
Einen Augenblick lang war eine geradezu geisterhafte Stille. Doch dann fuhr Laurence lachend fort: „Seit damals soll der ruhelose Geist des Abtes in jedem Jahr zu Michaeli mit Maske und Kapuze unter dem Fenster junger Mädchen stehen. Ich bin aber überzeugt, dass er heutzutage nur noch als Ausrede für Entführungen oder Seitensprünge benutzt wird.“ Unvermittelt ergriff er Juliannas Hand und fragte scheinbar leichthin: „Wenn ich zum Beispiel zu Michaeli im Kostüm des Abtes unter Euerm Fenster stünde, würdet Ihr dann meinem Lockruf folgen?“
Vergeblich versuchte Julianna, ihm die Hand zu entziehen. „Dieser Scherz war nicht besonders ergötzlich, Cousin Laurence“, sagte sie in scharfem Ton.
Doch Laurence zog dessen ungeachtet ihre Hand an die Lippen und bedeckte jeden Finger mit zärtlichen Küssen. „Vom ersten Tag an war ich verrückt nach Euch, Julianna“, murmelte er dabei. „Dieses Haar, diese Augen, dieser Mund! Welcher Mann würde da nicht schwach?“
Er ähnelte in diesem Augenblick Crispin so sehr, dass Julianna sich inständig wünschte, die Sehnsucht nach ihrem fernen Geliebten möge wieder so tief und stark werden wie früher. Zornig entriss sie Laurence ihre Hand.
„Ich gedenke nicht, mir dieses törichte Gerede noch länger anzuhören. Ihr habt von Anfang an gewusst, dass ich eine verheiratete Frau bin und noch dazu die Gemahlin Eures Vetters!“
„Der Widerstand, mit dem Ihr offensichtlich nur Euer Gewissen beruhigen wollt, reizt mein Verlangen nur noch mehr“, entgegnete Laurence selbstgefällig. „Und was unsere verwandtschaftlichen Beziehungen anbelangt: Nichts könnte mir größere Befriedigung verschaffen, als dem arroganten Edmund die Gemahlin auszuspannen.“ Laurence tastete unter Juliannas Rocksaum und umschlang ihr zarte Fessel. „Warum lässt er Euch um meiner leichtlebigen Schwester willen auch allein.“
Juliannas Blut begann zu kochen. „Wenn Ihr glaubt, mein Protest sei nur vorgetäuscht, dann irrt Ihr Euch gewaltig!“, rief sie erbost. „Nehmt sofort Eure Hände weg!“ Sie stieß mit dem freien Fuß nach seinem Arm.
Sofort ließ Laurence ihre Fessel los, aber nur um nun den Arm um ihre Taille zu schlingen. Als Julianna seine Lippen auf ihrem Munde spürte, schlug sie mit aller Kraft um sich. Doch Laurence lachte nur.
„Du bist genau das heißblütige Weib, das ich mir vorgestellt habe. Ich kann es kaum erwarten, endlich zu erleben, wie sich dein Temperament in der Liebe entfaltet. Dein fischblütiger Edmund wird es bestimmt nicht zum Leben erwecken. Komm, sträube dich nicht länger.“ Wieder zog er Julianna eng an sich.
„Zum letzten Mal, nehmt Eure Hände weg!“ Julianna riss sich los und flüchtete sich zu einem Mauerrest. „Ihr kennt meine Gefühle für Edmund nicht. Er ist zehnmal mehr der Mann, der so ein dünkelhafter Geck wie Ihr nie sein wird.“
Wütend stürzte sich Laurence auf sie. Das knisternde Geräusch zerreißender Seide drang an ihr Ohr. Eine heiße, schweißnasse Hand zerrte an ihrem Mieder.
Ich bringe dich um, wenn du es wagst,
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