Lockende Versuchung
unpässlich ist. Ich danke Euch für Euer freundliches Angebot, aber ich werde doch lieber ein andermal mit Edmund dorthin gehen.“
Laurence Bayard verzog seinen hübschen Mund zu einem spöttischen Lächeln. „Wie ergreifend! Die treue Gattin wartet auf den Gemahl, der sich in London mit meiner Schwester vergnügt.“
„Was redet Ihr da?“
„Nun, ich wollte damit sagen, dass Ihr Euch nicht zum Narren machen lassen solltet, Julianna. Vanessa ist an demselben Tage nach London gefahren wie Edmund und hat kein Hehl daraus gemacht, zu welchem Zwecke. Aber der eigentliche Narr ist ja mein Vetter, wenn er Euch wegen einer anderen Frau allein lässt. An Eurer Stelle würde ich auch ohne ihn einen kleinen Ausflug machen. Es ist ganz gut für einen Ehemann, wenn er sich seiner Frau nicht zu sicher sein darf.“
In Juliannas Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Edmund und Vanessa? Das würde er nicht wagen! Aber schließlich hatten ihm ihre Aufmerksamkeiten gefallen, und Vanessa war schön und verführerisch. Ach, zum Teufel mit ihm! Ohne weiter zu überlegen, versprach Julianna, am nächsten Tage mit Laurence die Ruine der Abtei zu besuchen.
16. KAPITEL
Am Freitag in aller Frühe machte sich Edmund auf den Heimweg nach Abbot’s Leigh. Er hatte das Pferd einer Kutsche vorgezogen, um die verkehrsreichen Ausfallstraßen umgehen und querfeldein auf dem kürzesten Wege nach Hause gelangen zu können. Nachdem er die ländlichen Gebiete von Kensington und Hounslow hinter sich gelassen hatte, überquerte er am Mittag die Themse bei Weybridge und gönnte sich nur eine kurze Rast in einem kleinen Gasthof. Nach einer Woche erfolgreicher Bemühungen um die Rehabilitierung seines alten Freundes konnte er es nicht erwarten, Julianna wiederzusehen.
Zwischen den langandauernden Konsultationen mit Advokaten und verschiedenen Vorsprachen zugunsten von Oglethorpe hatte er immer wieder das Problem seiner Ehe überdacht. Er begehrte Julianna mit aller Leidenschaft, die keine andere Frau zu stillen in der Lage wäre, ganz abgesehen davon, dass er vor dem Altar gelobt hatte, in Treue zu ihr zu halten.
Aber Julianna gehörte zu Crispin. Sie war aufgrund der obwaltenden Umstände lediglich seiner Pflegschaft übergeben, und er durfte keinen der Betroffenen enttäuschen. Nichtsdestoweniger vermisste er seine junge Frau schmerzlich, und je näher er Abbot’s Leigh kam, desto heftiger wurde sein Herzschlag. Er spornte die Stute zu einer schnelleren Gangart an und gab sich dabei der trügerischen Vorstellung hin, Julianna werde ihn jubelnd willkommen heißen und in seine Arme eilen.
Laurence Bayards spöttische Bemerkung über Vanessa und Edmund hatte Julianna eine schlaflose Nacht verursacht, wie oft sie sich auch von einer Seite auf die andere drehte. Immer wieder tauchten Bilder der beiden in verfänglichen, wenn nicht gar eindeutigen Situationen vor ihrem geistigen Auge auf, und als sie sich am anderen Morgen müde und zerschlagen erhob, waren die Spuren der ruhelosen Stunden deutlich in ihr Gesicht geschrieben.
Arabella Trowbridge sah sie besorgt an. „Ihr seht nicht gut aus, Julianna. Erwartet Ihr etwa auch ein Kind?“
„Nein, nein, da bin ich ganz sicher“, erwiderte Julianna hastig und lenkte sofort von diesem heiklen Thema ab, indem sie fragte: „Und wie fühlt Ihr Euch als werdende Mutter?“
„Nicht besonders gut“, räumte die Pfarrersfrau ein. „Vor allem am Morgen ist mir immer übel. Aber Mrs Drummond, die Hebamme, meint, das sei ein Zeichen für ein gesundes und kräftiges Kind. Ich fürchte jedoch, ich muss meine Arbeit in der Gemeinde tatsächlich etwas einschränken, wenn es sich nicht bessert. Das würde mir allerdings sehr schwerfallen.“
„Nun“, sagte Julianna, „wenn unser Herrgott von jenen, die seine Gefolgschaft antreten, verlangt, des irdischen Glückes zu entsagen, so meinte er damit wohl kaum, dass sich eine Frau, die gesegneten Leibes ist, nicht ihre wohlverdiente Ruhe gönnen soll.“
Dankbar legte ihr Mrs Trowbrigde die Hand auf den Arm. „Ihr habt mehr gesunden Menschenverstand, als man von einem Stadtmenschen gemeinhin erwarten kann, meine liebe Julianna.“
Die Besuchsrunde war an diesem Tage glücklicherweise etwas kürzer als sonst, sodass Julianna beizeiten wieder in Abbot’s Leigh war und viel Muße hatte, um sich für den Ausflug zur Klosterruine umzukleiden.
Am Nachmittag dann ließ Laurence Bayard die Kutsche am Ende der Dorfstraße halten, von wo sich ein schmaler Pfad
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