Lockende Versuchung
hügelaufwärts schlängelte. Während die östliche Seite des felsigen Hügels steil abfiel und nur hin und wieder etwas Buchsbaum oder eine Gruppe junger Eiben aufwies, war der sanft geneigte westliche Abhang, den die Ausflügler zum Aufstieg gewählt hatten, dicht mit Haselgesträuch, Stechpalme und jungen Pappeln bewachsen. Durch die vielen Wanderungen des Sommers gut vorbereitet, bewältigte Julianna mühelos den immer steiler werdenden Weg, während Laurence, der ein hochbeladenes Pony am Zügel führte, schon bald nicht mehr genug Atem für ein inhaltsloses Geschwätz hatte, was Julianna allerdings durchaus zu schätzen wusste.
Die Aussicht vom Gipfel erwies sich als der Mühe wert. Weit im Osten ragte der schlanke Turm der Kathedrale von Guildford in den strahlendblauen Himmel, wohingegen im Westen der alte Festungswall von Farnham Castle gleichsam schützend über dem Land lag. Zwergenhaft klein kuschelten sich die Häuser von Marlwood an den Fuß des Berges. Die Gemeindefelder erstreckten sich jenseits des Ortes wie eine Decke aus leicht gefaltetem lichtgrünen Musselin,weiß getupft von zahllosen wolligen Schafen. Bei diesem Anblick wunderte sich Julianna nicht mehr, dass die Zisterziensermönche vor vielen Jahrhunderten ausgerechnet hier oben ihre Abtei errichtet hatten. Dieser Ort vermittelte das Gefühl einer Weltferne, die fast einer Vorschau auf die ewige Seligkeit glich.
Nachdem Laurence sich von dem anstrengenden Aufstieg erholt hatte, machten sich die beiden an die Erkundung der alten Ruine. Das Dach der Kapelle war zum größten Teil zerfallen, aber der Ausblick in den freien Himmel gab dem Ort seltsamerweise eine ganz besondere Weihe. Immer wieder ragten Reste des alten Klostergebäudes aus dem wuchernden Grün. Schließlich entdeckten sie eine halb zerbröckelte Steinmauer, die wohl einmal den Klostergarten umschlossen haben mochte, und sie beschlossen, hier ihr Picknick abzuhalten. Als sie sich im Grase niederließen, bemerkte Julianna, dass Laurence heute Crispin auf eine geradezu verwirrende Weise ähnelte, da er auf seine modische Perücke verzichtet hatte.
Oh, Crispin, warum musstest du nur so weit fortgehen, dachte Julianna verzweifelt, denn der Geliebte entglitt ihr von Tag zu Tag mehr, und törichte Fantasien nahmen dafür seinen Platz ein – törichte und gefährliche Fantasien.
Erfreut über das zügige Tempo, das er seit seinem Aufbruch in London durchgehalten hatte, ritt Edmund am Nachmittag in Abbot’s Leigh ein. Im Hof eilte ihm ein Stallbursche entgegen und nahm ihm die Zügel ab. Die obere Hälfte der Küchentür war geöffnet und ließ würzige Düfte ins Freie dringen.
„Julianna, ich bin wieder da!“, rief Edmund strahlend, während er auf die Tür zuging.
„Wie gut, Euch wiederzuhaben, Kapitän.“ Die untersetzte Gestalt von Mrs Tully erschien im Türrahmen.
„Wie gut, wieder daheim zu sein, Mrs Tully.“ Edmund machte kein Hehl aus seiner Wiedersehensfreude. „Ist meine Gemahlin in der Küche?“
Ein Anflug von Besorgnis vertiefte die Furchen zwischen Mrs Tullys Brauen. „Nein, Sir, sie macht mit Seiner Lordschaft einen kleinen Ausflug – zum Abbot’s Tor“, fügte sie noch rasch hinzu, als wolle sie die unerfreulichen Neuigkeiten so schnell wie möglich loswerden.
Edmund starrte sie ungläubig an. „Und die Countess? Ist sie auch dabei?“ Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Vanessa auf einen Berg klettern würde.
„Ihre Ladyschaft hat sich die ganze Woche nicht hier sehen lassen“, erklärte Mrs Tully, während sie sich angelegentlich die Hände an ihrer Schürze abtrocknete. „Dafür hat Master Laurence hier ständig herumgelungert.“
„So? Hat er das?“ Kalte Wut stieg in Edmund empor, doch er bemühte sich trotzdem um einen gleichgültigen Ton. „Nun, es ist ein schöner Tag für einen solchen Ausflug. Ich denke, ich werde mich den beiden anschließen.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und befahl dem Stallmeister, ein neues Pferd für ihn zu satteln. Dann schwang er sich auf den Rücken des braunen Wallachs und galoppierte in einem Hagel kleiner Kieselsteine zum Tor hinaus und über die Dorfstraße davon.
Mordecai Brock und Nelson Tully hatten im Schatten einer alten Eiche neben der Spülküche Edmunds Heimkehr ungesehen beobachtet.
„Möchtet Ihr jetzt in der Haut des jungen Marlwood stecken, Mr Tully?“, erkundigte sich Mr Brock beiläufig, nachdem sein Herr in einer fernen Staubwolke verschwunden
Weitere Kostenlose Bücher