Lockende Zaertlichkeit
erkannt?"
Diese Frage hatte Olivia sich auch schon gestellt, aber sie war zu keinem Schluss gekommen. Sie zuckte die Schultern. "Ich glaube nicht. Aber er hat sofort nach dir gefragt", fügte sie rasch hinzu, als sie sah, wie Sally noch blasser wurde. "Einen Hirnschaden brauchen wir also nicht zu befürchten."
"Nein, er ist bloß blind", erwiderte Sally beinahe trotzig.
"Er ist am Leben, Sally. Und das ist im Moment das Wichtigste."
Sally stand unvermittelt auf. "Ich fahre jetzt ins Krankenhaus.
Kommst du mit?"
Olivia biss sich auf die Lippe. "Ich ... ich hatte eigentlich vor, zu den Hayes zurückzufahren."
Sally nickte. "Ist schon gut. Ich habe dich sowieso schon viel zu lange in Anspruch genommen."
Obwohl Olivia sich Sorgen um Sally machte, musste sie das Haus der Hamiltons verlassen. Sally würde sicherlich Verständnis dafür haben, dass sie, Olivia, nicht länger bleiben konnte.
Die alte Dame, um die Olivia sich fortan kümmerte, war eine liebenswerte Frau, die keine Probleme bereitete. Vier Wochen waren seit Marcus' Unfall vergangen, und Olivia hatte sich dazu gezwungen, ihn nicht mehr zu besuchen. Von Clara hatte sie jedoch erfahren, dass er sich körperlich gut erholt hatte und bald aus der Klinik entlassen werden würde.
Und dann rief Sally eines Tages an und bat Olivia um ein Treffen. Sie weigerte sich zuerst vehement, doch Sally ließ nicht locker, bis Olivia schließlich nachgab und mit Sally vereinbarte, sie am Nachmittag in einem Cafe zu treffen.
"Es ist wegen Daddy", kam Sally sofort zur Sache, nachdem der Kaffee serviert worden war.
Olivias Herz schlug sofort schneller. "Was ist mit ihm? Geht es ihm nicht gut?"
Sally seufzte tief. "Das ist schwer zu erklären."
"Versuche es."
"Es wäre am besten, wenn du ihn besuchen würdest. Dann würdest du auf einen Blick erkennen, was mit ihm los ist."
Olivia schüttelte den Kopf. "Ich halte das für keine gute Idee."
"Aber es wäre wirklich am besten, wenn du ihn sehen würdest", beharrte das Mädchen. "Ich kann dir nicht erklären, was mit ihm los ist. Er ist einfach ... einfach nicht mehr er selbst."
"Er ist blind, Sally. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis er sich an diesen Zustand gewöhnt hat."
"Es ist nicht nur das, Olivia. Du müsstest ihn sehen, dann wüsstest du, was ich meine."
"Das geht nicht."
"Und warum nicht?" Sally war nun den Tränen nahe. "Du hast doch gesagt, er hätte dich nicht erkannt. Du könntest dich als eine Freundin von mir ausgeben. Daddy braucht gar nicht zu wissen, wer du bist."
"Aber ich bin nicht richtig angezogen ..."
"Das ist doch egal, Daddy kann sowieso nichts sehen."
Olivia atmete tief durch. Sally hatte Recht. Marcus würde, nicht sehen können, dass sie ausgeblichene Jeans und ein altes T-Shirt trug. "Also gut", stimmte sie schließlich widerstrebend zu. "Aber ich verstehe nicht, wozu das gut sein soll. Was könnte ich schon tun, was die Ärzte nicht vermögen?"
"Das wirst du schon sehen, Olivia. Komm nur endlich mit."
Olivia verspürte einen Stich im Herzen, als sie Marcus'
Zimmer betrat. Der Raum war voller Blumen, deren Duft die Luft erfüllte, doch Marcus konnte die herrliche Pracht nicht sehen. Er saß am Fenster und konnte auch den Blick auf den schönen Garten und den strahlend blauen Himmel nicht genießen. Marcus trug eine schwarze Hose und ein blaues Hemd mit kurzen Ärmeln, und Olivia sah sofort, dass er beträchtlich abgenommen hatte. Die Wunden in seinem Gesicht waren zwar verheilt, doch es war schmaler, und seine Züge waren härter geworden.
Marcus drehte sich um, und Olivia hielt den Atem an, als er in ihre Richtung blickte - und dann durch sie hindurch. Marcus war blind, und nicht einmal der Spezialist war sicher, ob er je wieder würde sehen können. Er hatte vorgeschlagen, Marcus zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zu untersuchen, doch Marcus hatte es abgelehnt.
"Sally?" fragte er schroff.
"Ja, Daddy." Sie trat auf ihn zu und küsste ihn auf die Wange.
"Ich habe dir etwas Obst mitgebracht."
"Danke", erwiderte Marcus mit ausdrucksloser Stimme und drehte sich wieder dem Fenster zu.
"Ich lege es in die Schüssel, ja?" schlug Sally vor.
"Tu das."
Olivia war an der Tür stehen geblieben und wünschte, sie wäre niemals hergekommen. Es war schrecklich, Marcus so zu sehen und nichts für ihn tun zu können.
Plötzlich stutzte er und drehte den Kopf in Olivias Richtung.
"Ist noch jemand hier?" fragte er scharf. "Sally, ist jemand bei dir?"
"Ich ... ja, ich habe eine
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