Lockruf Der Leidenschaft
ursprünglich für sie vorgesehen worden war. Doch dieser Gedanke ließ sie voller Abscheu erschaudern. Polly schloss die Augen und malte sich aus, wie wundervoll es wäre, wenn sie bereits im Bett läge und sich die ermüdende Prozedur ersparen könnte, diese beruhigende, sanft schaukelnde Dunkelheit zu verlassen, die Treppenstufen hinaufzusteigen, sich auszuziehen ...
»Mistress Wyat.« Die hartnäckige Stimme des Kutschers drang durch den Schleier des Schlafes. Mit schweren Gliedern kämpfte Polly sich hoch, um aus der Kutsche zu steigen, ohne jedoch noch auf die korrekte Handhabung ihrer Röcke zu achten. Sie schleppte sich die Treppe hinauf und hoffte sehnsüchtig, dass Sue vielleicht noch aufgeblieben war, um ihr beim Auskleiden behilflich zu sein. Schwankend vor Müdigkeit öffnete sie die Salontür und ertappte sich dabei, wie sie bei Nicks Anblick, der vor dem Feuer döste, zusammenzuckte. Sie wollte heute Nacht allein sein, allein mit ihrem erschöpften Körper und ihrem überreizten Verstand, um die nötige Kraft für den kommenden Tag zu schöpfen.
In dem Augenblick, als sie das Zimmer betrat, erwachte Nick. »Du kommst spät, mein Herz.« Lächelnd erhob er sich, reckte sich und kam auf sie zu.
»Ich dachte, du wolltest heute Nacht zu Hause bleiben.« Als er sie umarmen wollte, trat Polly einen Schritt zurück und ging in Richtung Schlafzimmer.
»Ich wurde schon herzlicher empfangen«, bemerkte Nick nachdenklich und folgte ihr.
»Ich bitte um Entschuldigung, aber ich bin über alle Maßen erschöpft«, entgegnete Polly kurz angebunden und hob die Arme, um ihr Haar von den Nadeln zu befreien. »Wenn ich nicht sofort ins Bett komme, dann schlafe ich noch im Stehen ein.«
»Dann lass mich dir helfen.« Nick trat hinter sie, griff über ihre Schultern hinweg nach den cremeweißen Erhebungen ihrer Brüste und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel.
Mit einer ungeduldigen Geste, die sie beide erstaunte, schob Polly seine Hände fort. »Danach steht mir im Moment wirklich nicht der Sinn, Nick.«
»Was, zum Teufel, soll das denn?« In Nicholas' Zorn schwang Verwirrung mit, und er drehte sie zu sich herum, ergriff ihr Kinn und hob ihr Gesicht an, um es forschend zu mustern.
»Warum lässt du mich nicht einfach zu Bett gehen?«, rief Polly, in deren Augen Tränen glitzerten. »Ich bin einfach nur erschöpft. Den ganzen Abend über musste ich dieses entsetzliche Spiel spielen ... und ich glaube, du hast Recht. Wahrscheinlich wäre es wirklich einfacher, wenn ich mich Buckingham hingeben würde -« Nanu, warum hatte sie das gesagt? Warum kamen die Worte manchmal wie von selbst über ihre Lippen? »Nein«, widersprach Nick scharf. »Das erlaube ich nicht!«
»Und warum nicht?«, fragte Polly. »Bis vor kurzem war das doch noch in deinem Sinne.«
»Das ist wahr.« Nick ließ ihr Kinn wieder los und fuhr sich in einer ungewöhnlich verunsicherten Geste mit den Händen durchs Haar. »Aber ich habe einen Fehler begangen, als ich davon ausgegangen bin, dass ich es tolerieren könnte.«
»Einen Fehler begangen, als du dachtest, dass wir einander gegenseitig von Nutzen sein könnten?« Gütiger Gott, nun hatte sie es gesagt! Sprachlos starrte Polly Nicholas an und musterte sein Gesicht auf der Suche nach einer Verneinung. Doch sie sah sie nicht. Nicholas stand einfach reglos vor ihr, und in den smaragdgrünen Augen lag der Schatten der Wahrheit. Die wütenden Worte des Widerspruchs, die Polly dringender als alles andere zu hören wünschte - dieses Mal kamen sie nicht.
Sie wandte sich ab. Mit einem Mal fühlte sie sich kalt und leer. »Dann hattest du diesen Plan also schon von Anfang an. Das wollte ich nur wissen.« Sie zuckte die Achseln. »Es ist aber ohnehin nicht so wichtig. Aber ich hätte mir trotzdem gewünscht, dass du ehrlich zu mir gewesen wärst.« Konzentriert begann sie, die Freesien aus ihren Spitzenmanschetten zu zupfen.
Nicholas suchte krampfhaft nach Worten. War er denn jemals ihr gegenüber nicht ehrlich gewesen? Gewiss, anfangs hatte er das durchaus vorgehabt. Er hatte geglaubt, sie als ahnungsloses Werkzeug zu gebrauchen, doch das war nun wahrscheinlich ohnehin nicht mehr von Bedeutung. Er würde einen Weg finden müssen, um das zerstörte Vertrauen wieder aufzubauen. »Sieh mich an, Polly«, sagte er mit leiser Stimme.
Widerwillig gehorchte Polly. »Nick, ich bin zu müde dafür. Es ist auch nicht so wichtig.« Doch der endlose Kummer in den haselnussbraunen Augen strafte ihre Worte
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