Lockruf Der Leidenschaft
Geburt und Tod im zeitlosen Muster vollzogen, bestimmt von sozialen Ritualen und dem Rhythmus der Natur. Was aber würde passieren, wenn plötzlich eine tödliche Seuche um sich griff, die diesen Rhythmus durcheinander brachte, die Rituale zerstörte?
Ihre Kopfhaut begann zu prickeln, als ein unheimlicher Schauder über ihr Rückgrat rieselte. Wieder blickte sie zu ihren Gefährten hinüber und erkannte, dass das Gespenst der Angst seine Finger auch nach ihnen ausgestreckt hatte.
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16.
»Ich werde nicht mit Lady Margaret fahren!«, wiederholte Polly grimmig und bereits zum zehnten Mal in der vergangenen Stunde.
Nicholas gab sich alle Mühe, ein Mindestmaß an Ruhe und Geduld zu bewahren. »Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich diese Reise zweimal unternehme, Polly. Glaubst du ernsthaft, dass ich dich hier lasse, um Margaret zum Haushalt ihres Bruders in Leicester zu geleiten, und dann den ganzen weiten Weg zurückkomme, um dich nach Wilton House zu bringen?«
»Ich erwarte gar nichts von dir«, erwiderte Polly störrisch. »Ich habe dich um nichts gebeten, oder? Ich verstehe, dass du deiner Familie gegenüber Verantwortung hast, aber ich bin kein Mitglied deiner Familie. Kümmere du dich um Lady Margaret, und ich reise allein nach Wiltshire. Ich kann ja mit der Postkutsche fahren.« Damit wandte sie Nicholas den Rücken zu und blickte aus dem fest verriegelten Fenster auf die Drury Lane hinaus, die unter der schlimmsten Maihitzewelle ächzte, die die Stadt seit vielen, vielen Jahren erlebt hatte.
Es waren kaum Menschen auf der Straße, und die wenigen, die unterwegs waren, hielten sich in der Mitte der Straße, ein gutes Stück entfernt von den Haustüren und den Seitenstraßen, wo sie womöglich einem anderen menschlichen Wesen begegnen könnten - jemandem, der möglicherweise infiziert war, auch wenn er selbst noch nichts davon wusste. Sie hielten sich in Essig getauchte Taschentücher vor Mund und Nase, denn es hieß, man sauge bereits beim Atmen schon den Tod in sich auf.
Polly sah, dass auf zwei weiteren Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite das rote Kreuz prangte - sowie das einzige Gebet, das es für die Hausbewohner noch zu sprechen gab: Herr, erbarme dich unser. Gegen eine dieser Türen stand der Wachmann gelehnt, der sich gedankenverloren in den Zähnen herumstocherte. Über ihm wurde ein Fenster geöffnet, und ein Kopf erschien. Der Wachmann trat von der Tür und blickte nach oben. Dann nickte er kurz und verschwand die Straße hinauf. Vielleicht um einen Arzt zu holen, überlegte Polly, oder eine Krankenschwester; in jedem Fall aber noch nicht den Leichenkarren. Er würde seine Runden erst bei Einbruch der Dunkelheit beginnen, wenn die Stadt widerhallte vom melancholischen Läuten der Glocke und dem Ruf: »Bringt eure Toten heraus!«
Nick blickte auf Pollys Rücken und kämpfte seine aufsteigende Wut nieder. Je länger sie noch in dieser dahinsiechenden Stadt blieben, desto unausweichlicher wurde ihr Schicksal. Der Hof war in seinem angstvollen Bestreben, sich so weit wie möglich von London zu entfernen, inzwischen von Hampton Court nach Wilton House übergesiedelt, dem Landsitz des Grafen von Pembroke in der Nähe von Salisbury In Scharen verließen die Menschen die Stadt; und Nicholas oblag die Pflicht, für die Sicherheit seiner Schwägerin und des Haushalts zu sorgen. Und nun erklärte Polly ihm, dass diese Pflicht sie nicht mit einschloss.
Wenn sie seine Ehefrau wäre ... Nein, dies war kaum der passende Augenblick, um dieses Thema anzuschneiden. Wenn diese leidige Geschichte mit Buckingham endlich ein Ende gefunden hatte, dann - so hatte Nicholas es zumindest vorgehabt - wollte er sich um diese Frage kümmern. Schließlich war es eine recht komplexe Angelegenheit, da er auf diese Weise unvermeidlicherweise die Gegenposition zu seiner Schwägerin beziehen würde. Iis käme die Frage nach der Wohnstätte auf - sowohl der von Nicholas und Polly als auch der von Lady Margaret -, und darüberhinaus würde er sich mit den Schwierigkeiten befassen müssen, die ihm die Vorstellung bereitete, seine Ehefrau mit der Öffentlichkeit teilen zu müssen. Doch all diese Überlegungen waren in den vergangenen Wochen ohnehin allesamt von der brutalen Geißel unterdrückt worden, die sich über sämtliche sozialen Schichten hinwegsetzte. Im Augenblick waren der Tod - und dessen Vermeidung - die einzigen Themen, die von Bedeutung waren.
»Ich erwarte ja gar nicht von dir,
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