Lockruf Der Leidenschaft
riss sich den schweren, bestickten Umhang von den Schultern, den sie mit einer wütenden Geste dem Hut folgen ließ, und zerrte an den Knöpfen ihrer Seidenweste. Aus irgendeinem Grund erschien ihr das Kostüm mit einem Mal stellvertretend für die Demütigung, die sie an diesem Abend erlebt hatte. Als Göre in einem Hurenkostüm hatte sie Buckingham ihre Angst eingestanden und damit alles ruiniert. Der Plan war zu Trümmern zerschlagen, weil ihr Mut sie verlassen hatte. Sie hatte Buckingham das geschmacklose Angebot einer Dirne unterbreitet, und dann, als sie merkte, dass ihre Herausforderung angenommen wurde, auf dem Absatz kehrtgemacht und war davongerannt. Nun flog auch die Weste durch den Salon. Als Nächstes riss Polly sich die Kniebundhosen und das Seidenhemd vom Leib, ließ beides auf den Fußboden fallen und trampelte darauf herum.
Polly wusste sehr wohl, dass die Gewalt, die sie ihrer Kleidung antat, ein Sakrileg war. Ihre reich geschmückten Kostüme stellten eine beträchtliche finanzielle Investition dar. Im Grunde waren sie sogar das Eigentum des Königs und somit etwas, das mit größter Sorgfalt zu behandeln war. Wenn ein Schauspieler sich auf den Bühnenboden legen musste, wurden zuvor Decken über die Bohlen gebreitet, um die Garderobe zu schützen, und Scheinkämpfe wurden stets mit größter Vorsicht aufgeführt.
»Gütiger Himmel!« Nick stand in der Tür und starrte Polly an, die nackt bis auf die Haut in einer schillernden Masse aus Satin und Stickereien balancierte.
»Heb die Sachen auf!« Eilig schloss Nicholas die Tür hinter sich und versuchte, sich einen Reim auf diesen höchst erstaunlichen Anblick zu machen.
»Ich hasse sie!« Polly spie die Worte geradezu aus, schob einen Zeh unter die Hose und hob den Fuß samt Anhängsel. »Ich werde sie nie wieder tragen!« Mit einem gelenkigen Tritt ließ sie auch die Hose durch die Luft segeln.
»Das solltest du besser mit Killigrew besprechen«, erklärte Nick. »Und heb sie sofort wieder auf! Nein, nicht du!« Nicholas wirbelte zu Susan herum, die mit einem verängstigten Wimmern in eine Ecke des Salons gehuscht war und sich nach dem achtlos weggeworfenen Umhang bückte. »Heb die Sachen auf, Polly«, wiederholte er in etwas ruhigerem Tonfall, ehe er von der Anrichte trat und sich ein Glas Wein einschenkte. "Nein«, widersprach Polly mit einem weiteren verächtlichen Tritt.
Nick wandte sich abermals zu Polly um, die mit in die Hüften gestemmten Händen dastand, den Kopf in den Nacken geworfen, die topasfarbenen Tiefen ihrer Augen von Trotz erfüllt. Doch Nick sah noch etwas anderes darin, und genau dieses andere war es, was Nick interessierte. Doch ihm war klar, dass er es erst zu fassen bekäme, wenn er den Trotz überwunden hatte. »Heb die Kleider auf, Polly.«
In diesem Augenblick trat Richard De Winter durch die Haustür und trat auf die völlig aufgelöste Sue. »Guten Abend, Susan«, begrüßte er sie höflich und ging auf die Treppe zu. »Lord Kincaid ist oben?« »Ja ... ja, bitte, M'lord«, stammelte Susan, die im Geiste noch immer den Anblick der splitterfasernackten Polly vor Augen hatte. »Aber ich weiß nicht, ob er Euch jetzt empfangen kann«, stieß sie etwas atemlos hervor, trat eilig auf die unterste Stufe und versperrte De Winter den Weg.
Richard beobachtete diese mutige Geste mit erhobenen Brauen. »Wenn dem so sein sollte, kann er mir das ja auch selbst sagen, oder etwa nicht?«, entgegnete er gelassen.
Susan stand mit offenem Mund da, während sie versuchte, sich eine Erklärung einfallen zu lassen, die Seine Lordschaft davon abhielt, weiter die Treppe hinaufzugehen. Doch De Winter ließ sich nicht abhalten. Er packte das Mädchen kurzerhand bei den Schultern und schob sie sanft aus dem Weg. »Verschwinde, Mädchen. Ich breche schließlich nirgends ein, wo ich nicht auch willkommen wäre, also brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« Damit marschierte er die Treppe hinauf und klopfte an die Salontür.
Im Inneren des Raums rührte sich scheinbar nichts. Polly war bei dem Klopfen zwar kurz zusammengezuckt, rührte sich aber nicht vom Fleck. Nicholas hielt den Blick über den Rand seines Weinglases hinweg starr auf Polly gerichtet. »Wer ist da?«, rief er. »Richard.«
»Bitte entschuldige, aber hab noch einen Augenblick Geduld«, antwortete Kincaid, ohne den Blick von Polly zu nehmen. »Also«, sagte er mit leiser Stimme. »Es liegt jetzt ganz bei dir, ob du die Sachen aufhebst und dir ein Nachthemd überziehst,
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