Lockruf Der Leidenschaft
ihre Röcke mit einem anmutigen Schwung fielen. Für all dies sorgte ihre Unterkleidung. Polly ging zu einem niedrigen Stuhl, wobei ihr das Gewicht und das Ziehen der Schleppe nur allzu bewusst wurden. Sich mit Grazie auf den Stuhl zu setzen war nicht mehr so ganz einfach, wie sie feststellen musste. Zunächst musste sie die Schleppe aus dem Weg schaffen, um nicht den Stuhl damit umzustoßen, wenn sie sich umdrehte. Ihren ausladenden Rock hingegen musste sie nach vorne schwingen, wenn sie nicht darauf treten wollte. Noch wichtiger war es jedoch, darauf zu achten, dass sie den Stuhl nicht komplett verfehlte, während sich dieser unter ihrem Kleid verlor. Und all das musste gleichzeitig passieren. »Warum versucht Ihr es nicht einfach? Der Stuhl wird Euch schon nicht beißen«, unterbrach Thomas ihre Überlegungen. Mit einem Lachen wandte Polly sich zu ihm um. Ihre Meinungsverschiedenheiten waren bereits wieder vergessen.
»Ich habe mich gerade gefragt, ob er wohl stehen bleibt.«
»Ich zeige Euch, wie man es macht.« Killigrew trat neben sie. »Nehmt den Rock hinten mit einer Hand - etwa so -, und dann zieht die Schleppe zur Seite, während Ihr den rechten Fuß nach vorn schwingt, um damit den Rock zur Seite zu schieben. Ja, genau so. Und jetzt lasst Euch auf den Stuhl sinken. Gut.« Zufrieden lächelnd blickte er sie an. »Das war doch nicht so schwer, oder?«
»Auf jeden Fall ist es nicht sonderlich bequem«, bemerkte Polly, die auf der vordersten Kante des Stuhles saß. »Wenn ich mich nach vorn beuge oder nach hinten lehne, pikst mich dieses gräss-liche Gestänge.« »Aber dafür werdet Ihr stets Eure Haltung bewahren«, erklärte Killigrew. »Flora mag ja eine lebhafte und scharfzüngige junge Dame sein, aber sie ist dennoch eine Dame und würde sich, wie Ihr sicherlich ebenfalls bereits bemerkt habt, niemals auf einem Stuhl zusammensacken lassen.«
Nick runzelte die Stirn. »Bist du sicher, dass eine Woche ausreicht, um sich all das, was Polly zu lernen hat, auch wirklich anzueignen?«
»Natürlich wird eine Woche ausreichen!«, meldete Polly sich energisch zu Wort. »Wenn es sein muss, übe ich jede Nacht, aber ich bin fest entschlossen, nicht mehr Zeit als unbedingt nötig in diesem Nest hier zu verbringen.« »Ich glaube, darum brauchen wir uns nur wenig Sorgen zu machen«, entgegnete Killigrew mit einem schwachen Lächeln. »Moorfields wird Euch auch nicht viel länger beherbergen können.«
Während der folgenden sieben Tage wurde Nick überdeutlich klar, dass Polly so gut war, wie sie stets behauptet hatte. Killigrew war ein strenger Lehrmeister, verlangte aber nicht mehr von ihr, als sie sich selbst abverlangte. Möglicherweise stellte sie sogar noch höhere Anforderungen an sich als er. Es bereitete ihr keinerlei Mühe, die Rolle der Flora zu erlernen, und sie nahm sogar Nick in die Pflicht, abends mit ihr den Text einzustudieren, obwohl er sich erheblich aufregendere und reizvollere Beschäftigungen vorstellen konnte. Mit grimmiger Entschlossenheit biss sie die Zähne zusammen und trug ohne Unterlass das verhasste Korsett, bis es sich für sie wie eine zweite Haut anfühlte.
»Ich mache mir ernsthafte Sorgen«, sprach Killigrew am sechsten Tag bedrückt zu Nicholas, als sie beide die Probe vom Parkett aus verfolgten.
Erstaunt blickte Nick ihn an. »Warum das?« »Neben ihr wirkt der Rest der Truppe so unbeholfen und langweilig wie hölzerne Schaufensterpuppen. Das Publikum wird nicht wissen, wie es sich verhalten soll. Ich bezweifle, dass die Leute jemals ein solches Talent oder eine solche Schönheit gesehen haben. Und wenn sie diese Qualitäten nicht erkennen, sondern nur bemerken, dass sie anders ist als ihre Kollegen und als das, was sie bisher zu sehen bekommen haben, ist es durchaus möglich, dass sie sie ausbuhen.«
»Falls die Gefahr besteht, dass das passiert, Thomas, erlaube ich ihr nicht, dass sie morgen auftritt«, erklärte Nick entschlossen.
Thomas lächelte müde. »Wie willst du sie denn davon abhalten, mein Freund? Das würde ich liebend gerne sehen.« Er erhob sich und trat zum Bühnenrand. »Polly, Ihr hantiert mit dem Fächer herum, als ob er ein toter Fisch wäre! Der Fächer ist ein Teil von Euch und soll genauso ausdrucksvoll eingesetzt werden, wie Ihr Eure Augen oder Eure Stimme einsetzt. In diesem Augenblick solltet Ihr zum Beispiel Verärgerung ausdrücken. Vollführt eine schnelle Drehung mit dem Handgelenk, sodass der Fächer aufspringt und sich sogleich wieder
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