Lockruf Der Leidenschaft
»Bis Ihr Euch daran gewöhnt habt, ist ein wenig Unbehagen nicht zu vermeiden.«
»Daran werde ich mich niemals gewöhnen!« Polly wand und krümmte sich und schielte über die Schulter auf Lizzies eifrige Finger. »Oh, Nicholas!«, rief sie, als sie ihn bemerkte. »Sag Thomas, dass er das nicht tun darf. Meine Knochen brechen noch!« Sie gab einen langen Klagelaut von sich, als Lizzie die Schnüre festhakte. »Nicholas, du kommst tatsächlich genau zum richtigen Zeitpunkt.« Killigrew glitt von der Frisierkommode und begrüßte den Neuankömmling mit sichtlicher Erleichterung. »Vielleicht kannst du Polly die Gegebenheiten etwas besser erklären.«
Nicholas betrachtete seine wetternde Mätresse. Nur das leinene Hemd schützte ihre Haut noch vor den Korsettstangen aus Fischbein, die jegliches Zusammensinken ihres Rückens und Nachlassen der Spannung in ihren Schultern verhinderten und ihre Brüste so weit anhoben, dass sie sich einladend über dem tief ausgeschnittenen Oberteil ihres Hemds wölbten, das mit einer verführerischen Borte aus venezianischer Spitze eingefasst war. »Du musst das Korsett tragen«, entgegnete er. »Denn was du unter deinem Kleid anhast, ist wichtiger als alles, was du möglicherweise darüber trägst.«
»Genau das habe ich auch gesagt«, warf Killigrew ein. »Das Korsett formt Eure Figur und kontrolliert die Art und Weise, wie Ihr Euch bewegt. Ohne das Korsett würden Eure Kleider nicht richtig sitzen, und Ihr könntet keine einzige der Bühnengesten korrekt ausführen, insbesondere den Knicks nicht. Ihr wollt die Wirkung all dessen, was Ihr schon so gut beherrscht, doch nicht wieder schmälern?«
»Wenn ich nicht mehr atmen kann und man mir die Rippen gebrochen hat, werde ich ohnehin nichts mehr tun können«, erwiderte Polly.
Nicholas durchquerte den Raum, drehte Polly zu sich herum und begutachtete kritisch den Sitz des Korsetts. »Es ist in der Tat ein wenig stramm, Killigrew«, bemerkte er. »Man könnte es ein bisschen lockern - zumindest fürs erste Mal.« Ohne dessen Zustimmung abzuwarten, lockerte Nicholas die Schnüre eigenhändig, zwar nur ein klein wenig, aber dennoch ausreichend, um der leidenden Polly eine spürbare Erleichterung zu verschaffen. »Es fällt mir schwer zu glauben, dass Ihr angeblich noch nie zuvor ein solches Kleidungsstück tragen musstet«, bemerkte Killigrew. »Zumindest, wenn Ihr tatsächlich eine Gouvernante hattet, die so großen Wert auf Euer Erscheinungsbild legte.« »Meine Tante ist an der zu engen Schnürung ihres Korsetts gestorben - als sie schwanger war«, schmückte Polly ihre Lüge schamlos aus. »Deshalb bestand meine Mutter nicht darauf. Abgesehen davon gehörten meine Eltern den Puritanern an und hießen Eitelkeit grundsätzlich nicht gut.«
Diese Erklärung klingt wirklich schlüssig, überlegte Lord Kincaid mit stiller Bewunderung. Doch sobald sie wieder unter sich waren, sollte er dieser begabten Lügnerin dennoch erklären, wie gefährlich es werden konnte, wenn man des Guten zu viel tat. Für den Augenblick jedoch gab er sich damit zufrieden, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.
»Hast du immer noch vor, morgen in einer Woche Floras Launen aufzuführen, Thomas?«
»Wenn Polly so nett wäre und sich ein wenig einfügen würde«, erwiderte Thomas mit einem Anflug von Sarkasmus. »Mehr verlange ich ja gar nicht.«
»Nein, nur dass man mich zusammenquetscht wie eine eingemachte Quitte«, gab Polly zurück.
Killigrew verdrehte die Augen. »Zieh das Kleid an, Liebes«, sagte Nicholas beschwichtigend. »Dann wirst du auch den Grund für das Korsett erkennen.«
Polly konnte seinem gewinnenden Lächeln und der sanften Stimme beim besten Willen nicht widerstehen. Sie schenkte ihm ein halb entschuldigendes, halb verschwörerisches Lächeln, ehe sie sich Lizzie zuwandte, die die Falten eines mit Spitze umsäumten Unterrocks aufschüttelte. Das Kleid aus Seidenbrokat, das sie darüber tragen würde, war reicher verziert und voluminöser als jedes andere, das sie bis jetzt getragen hatte, und besaß zudem eine lange Schleppe.
Polly stand einige Minuten lang vor dem Spiegel und betrachtete sich, doch nicht aus Eitelkeit, sondern wie jemand, der sich bemühte, sich ein klareres Bild zu machen. Als Erstes bemerkte sie, dass ihr das Korsett, auch wenn es sie einengte, andererseits auch eine gewisse Freiheit verlieh. Damit brauchte sie nicht mehr an ihre Haltung zu denken, daran, ob ihr Dekollete angemessen zur Geltung kam oder
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