Lockruf der Toten / Magischer Thriller
»Danke« von ihnen los. Noch ein letzter Blick, dann legte er mir die Finger auf den Arm und ging zur Tür. Er hatte die Strecke zur Hälfte hinter sich, als er stehen blieb und sich langsam umdrehte.
»Ich habe gerade gesehen, dass Sie dort ein paar Runen haben«, sagte er mit einem Nicken zu der Vitrine hinüber.
Die junge Frau strahlte auf. »Yep. Meine Spezialität. Ich mag die – elegant, oder nicht?«
Jeremy nickte, immer noch zögernd, als erwöge er etwas. Eine Sekunde später ging er zu der Frau zurück.
»Es gibt da ein paar, die ich mal gesehen habe, aber nie wirklich einordnen konnte.«
»Wie sehen sie aus?«
Er nickte zu ihrem Block hin und murmelte: »Darf ich?«
Sie händigte ihm den Block aus. Er zeichnete zwei Symbole. Ich beobachtete ihn mit dem unbestimmten Gefühl, die Motive schon einmal gesehen zu haben, aber ich konnte mich nicht erinnern, wo.
»Sie sind ein Künstler«, sagte die Frau; ihr Lächeln war zurückgekehrt. »Das merkt man.«
Ein kleines Nicken, nicht wirklich ein Eingeständnis. Er brachte seine Zeichnungen zu Ende, und die junge Frau studierte sie und schüttelte dann den Kopf.
»Sie sehen ein bisschen aus wie etwas aus dem älteren Futhark und ein bisschen wie ungarische Runen, aber weder das eine noch das andere trifft es genau.« Sie nahm das Blatt und hob es ins Licht, um besser zu sehen. »Aber schön sind sie. Darf ich sie behalten?«
Ich rechnete damit, dass Jeremy »Ja, natürlich« sagen würde – die üblichen guten Manieren –, aber er zögerte, als hätte er die Bitte gern abgeschlagen, wisse aber nicht recht, wie. Einen Moment später nickte er.
»In welcher Richtung arbeiten Sie denn?«, erkundigte sie sich.
Sein Blick war abwesend; er war in Gedanken anderswo. Ein Lidschlag, als er widerwillig von dort zurückkam. »Hauptsächlich Öl.«
»Cool. Bei mir ist es Tusche, wie Sie sich wahrscheinlich schon gedacht haben.«
Sie schwatzte noch ein paar Minuten lang, während Jeremy die passenden Antworten murmelte und ihr ein paar Komplimente zu ihrer Arbeit machte. Er ließ sich weder seine Geistesabwesenheit noch seine Ungeduld anmerken; nur jemand, der ihn kannte, hätte die Hinweise bemerkt – die Distanz in dem, was er sagte, die Leere seiner Augen. Ich legte ihm die Hand auf den Arm.
Er nickte. »Wir müssen los.«
»Hier«, sagte sie, während sie ihm die Geschäftskarte wieder aus den Fingern zog. Sie schrieb zwei Nummern auf die Rückseite und lächelte ihm zu. »Privatnummer und Handy. Falls Sie jemals Lust haben sollten, über Runen oder Kunst zu reden.«
Kunst, ganz sicher. Aber ich folgte Jeremys Beispiel, lächelte ihr zu und bedankte mich für die Auskünfte.
Als wir auf die Straße hinaustraten, sagte ich: »Das waren zwei von den Runen auf den Babydecken. Die, von denen Elena sagt, du hast sie applizieren lassen.«
Er nickte.
»Wie die Symbole in Clays Zimmer. Auf der Überdecke und den Wänden. Elena sagt, du hättest diese Überdecke vor Jahren mal entdeckt und die Wände mit den gleichen Symbolen bemalt, damit es zusammenpasst. Und sie sagt, du hast die Babydecken auf die gleiche Art gestalten lassen. Nur dass du diesen Überwurf nicht
gefunden
hast, stimmt’s? Du hast ihn machen lassen. Genau wie die Decken. Und es war auch nicht einfach zum Spaß.«
Er sah schnell zu mir herüber, die Brauen hochgezogen.
»Wo kommen sie her?«, fragte ich.
Eine Pause, dann klopfte er sich seitlich an den Kopf. »Wie sie da reingekommen sind?« Ein merkwürdiger Ausdruck glitt über sein Gesicht, Frustration mit einer Spur von etwas, das fast nach Kummer aussah. »Keine Ahnung. Einfach nur …«
Er zuckte die Achseln und ging weiter, als wolle er es dabei belassen. Dann, als wir das Auto fast erreicht hatten, sagte er: »Es ist ein … inneres Bedürfnis, nehme ich an. Bei Clays Zimmer, als er jünger war. Jetzt bei den Kindern. Sogar Elena hat ein paar in ihrem Zimmer.« Ein winziges schiefes Lächeln. »Gut versteckt natürlich. Wenn sie sie fände, würde sie glauben, ich bin verrückt geworden.«
Sie würde nichts dergleichen glauben. Aber sie würde Fragen stellen, bohren und sich Sorgen machen, genau das also, was er nicht wollte.
»Glaubst du, es besteht ein Zusammenhang zu den anderen Dingen?«, fragte ich. »Den Visionen? Deinem … Gespür?«
»Ich habe auch schon dran gedacht, aber ich wüsste nicht, wie. Vielleicht sind es einfach« – er zuckte die Achseln – »Bilder, die ich irgendwann mal gesehen habe und die
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