Lockruf der Toten / Magischer Thriller
sein verlorenes Leben hinweggekommen ist und man nur alte Wunden aufreißt? Was, wenn man damit den Schorf von den eigenen kaum verheilten Wunden kratzt?
»Wenn Sie lieber keinen Kontakt zu ihm aufnehmen würden, gibt es vielleicht jemand anderen …«
Ihr Kopf fuhr hoch. »Warum sollte ich keinen Kontakt zu ihm aufnehmen wollen?«
»Ich meine damit nur – ich versuche nicht, das Angebot zurückzunehmen. Ich werde es selbstverständlich versuchen, wenn es das ist, was Sie möchten. Aber wenn es das nicht sein sollte, dann hätte ich jedes Verständnis …«
»Tatsächlich?«
Mollys Stimme klang plötzlich kalt. Sie stellte ihr Glas mit einer bedächtigen Bewegung ab. Mein Blick glitt zur Tür. Sie folgte meiner Blickrichtung und setzte ein sprödes kleines Lächeln auf.
»Sie denken schon wieder ans Gehen, Jaime? Woran das wohl liegt?«
Ich lachte. »Gehen? Nein. Ich habe mich bloß gefragt …«
Ich sprang aus meinem Sessel auf. Ihre Hand flog nach oben; ihre Lippen formten eine Magierformel – einen Rückstoßzauber. Ich versuchte mich zu ducken, wie Lucas es mir beigebracht hatte, aber ich war nicht schnell genug. Statt mich in den Bauch zu treffen, rammte die Formel meine Schulter und riss mich herum. Die Füße rutschten unter mir weg. Ich sah, wie mir eine Ecke des Sofatischs entgegensegelte. Versuchte mich zur Seite zu werfen. Zu spät. Aufprall. Schmerzen. Dunkelheit.
Ich wachte vom Heulen einer Autohupe auf. Etwas hielt mich fest, zog sich um Handgelenke und Fußknöchel zusammen, wenn ich mich bewegte. Ich öffnete den Mund, um etwas zu rufen, und schmeckte Plastik und Klebstoff.
Alles ringsum war so dunkel wie in dem Moment, in dem ich gefallen war. Augenbinde? Ich bewegte den Kopf und wartete auf das ziehende Gefühl an den Schläfen. Leider weiß ich, wie eine Augenbinde sich anfühlt. Ich weiß auch, wie es sich anfühlt, gekidnappt zu werden. Eine Sekunde lang war dies mein einziger Gedanke –
Himmeldonnerwetter, doch nicht schon wieder.
Aber bei der Bewegung spürte ich statt einer Augenbinde etwas Kratziges an Händen und Gesicht. Wie eine alte Decke. Gefesselt, geknebelt und abgedeckt.
Der Boden vibrierte unter mir. Das stete Summen von Reifen. Ich erinnerte mich an die Hupe, die mich geweckt hatte. Ich befand mich in einem Auto. Im Kofferraum – nein, in einem Kofferraum würde ich keinerlei Licht sehen können. Ich rief mir das Auto in Mollys Einfahrt ins Gedächtnis. Ein Geländewagen.
Sie hatte mich gefesselt und geknebelt und es dann irgendwie fertiggebracht, mich in die Garage zu schleifen; dann hatte sie das Auto hineingefahren, mich hineingelegt, und jetzt brachte sie mich …
Wohin?
Na ja, ich war mir ziemlich sicher, dass wir nicht auf ein paar Daiquiris ausgingen.
Ich hatte Selbstverteidigungskurse mitgemacht. Sie hatten mir mehr Selbstvertrauen als wirkliche Fähigkeiten vermittelt, aber ich erinnerte mich sehr genau an einen spezifischen Ratschlag. Wenn jemand versucht, dich in ein Auto zu kriegen, tu alles, was in deinen Möglichkeiten steht, um dich dagegen zu wehren. Du kannst dir vollkommen sicher sein, wo immer man dich auch hinbringen will, es wird ein abgeschiedener Ort sein, und man wird dort etwas tun wollen, das dir nicht gefällt.
Ich musste hier raus, bevor Molly – oder wer der Fahrer auch sein mochte – ihr Ziel erreicht hatte. Aber wie? Ich war hier gefangen. Ich hatte keine Formeln. Keine dämonischen Begabungen, keine übernatürlichen Kräfte. Ich war einfach bloß eine Nekromantin. Wehrlos.
Quatsch.
Normale Frauen schafften es dauernd, sich aus solchen Situationen zu befreien. Gut, vielleicht nicht aus genau dieser Situation, aber wenn man von der schwarzen Hexe einmal absah, war dies im Grunde eine gewöhnliche Entführung. Ich wusste nicht genau, wie die statistische Wahrscheinlichkeit, einem Kidnapper zu entkommen, aussah, sagte mir aber, dass sie gar nicht schlecht war.
Als ich mich bewegte, kratzte mich die Decke an der Wange, und das brachte mich auf die Überlegung, warum ich mit ihr zugedeckt war. Weil ich nicht im Kofferraum lag, was bedeutete, jemand konnte in Mollys Geländewagen hineinsehen und feststellen, dass der Rücksitz umgelegt war und eine gefesselte Frau hinten im Auto lag. Ziel Nummer eins somit? Die Decke loswerden.
Ich hatte eben angefangen, mich zu bewegen, als eine Stimme mich erstarren ließ.
»Gut nach Hause gekommen von der Schule? Und deine Schwester?«
Molly. Auf dem Fahrersitz. Mit dem Handy.
Weitere Kostenlose Bücher