Lockruf der Toten / Magischer Thriller
seiner Schulter, während er das Kinn auf die meine stützte. Er zeichnete ein X in das mittlere Quadrat und reichte mir den Stift.
Ich starrte auf das Papier hinunter. Das Muster, das er gezeichnet hatte, war so vertraut, dass ich es augenblicklich hätte erkennen sollen, aber mein Hirn verweigerte ein paar Sekunden lang den Dienst; es steckte immer noch bei den unerwünschten Geräuschen und ungebetenen Bildern fest. Ich zwinkerte … und begann dann lautlos zu lachen, als ich das Tic-Tac-Toe-Raster erkannte. Ich fügte ihm meinen Kringel hinzu.
Jedes Kind über acht weiß, worauf es bei dem Spiel ankommt, aber ich war zunächst so unkonzentriert, dass ich ein paar Runden brauchte, bis mir wieder einfiel, wie man gewann.
Danach hatte das Spiel seinen Reiz natürlich verloren. Also ging Jeremy zu Galgenmännchen über und fragte nach einem Tier mit vier Buchstaben. Das fand ich ziemlich schnell, woraufhin er mit ein paar Strichen einen Wolf für mich zeichnete und dann ein neues Spiel begann. Und so ging es weiter, wobei er die Rätsel zunehmend schwieriger gestaltete und mich mit seinen Kritzeleien zum Lächeln brachte.
Die Laute drüben verschwammen zu Hintergrundgeräusch, etwa als würde ein lästiger Nachbar bei hochgedrehter Lautstärke seine Pornovideos ansehen. Meine Welt schrumpfte zusammen zu diesem kleinen Versteck, der Wärme von Jeremys Armen, die um mich geschlossen blieben, wenn er schrieb, dem Flüstern, das mich am Hals kitzelte und an meinem Rückgrat entlang zu vibrieren schien, dem Kratzen seiner Wange an meiner, wenn er sich bewegte, dem würzigen Geruch seines Atems – Tacos oder Burritos, die er unterwegs besorgt und im Gehen gegessen haben musste. Ich lehnte mich an ihn, löste seine Rätsel und lachte über seine Zeichnungen.
Wer sonst hätte das für mich getan, Galgenmännchen gespielt, während ein paar Meter weiter ein SM -Ritual in vollem Gange war? Wer hätte sonst noch wissen können, dass es genau dies war, was ich brauchte – eine so unschuldige, so harmlose Ablenkung, dass sie alles, was da draußen gerade los war, ebenso harmlos erscheinen ließ?
Ich merkte nicht einmal, dass das Ritual zu Ende ging, ich war viel zu sehr von dem aktuellen Galgenmännchen-Rätsel eingenommen. Die Unterhaltung der Asmodai-Jünger klang jetzt wortkarg und gedämpft; niemand schien mehr in der richtigen Stimmung zu sein, um über Spülmaschinen zu reden. Eine heisere Stimme fragte nach dem Wein. Kelche klangen aneinander, als jemand sie einzusammeln schien.
Ich wandte mich dem nächsten Rätsel zu. Amerikanische Großstadt mit neun Buchstaben. Minuten später wurde die Kellerbeleuchtung ausgeschaltet, und das Blatt vor mir wurde schwarz.
Die Stimmen und Schritte entfernten sich, während Jeremy seinen Block einsteckte. Ich rutschte von seinem Schoß, fand die Taschenlampe und schaltete sie ein; dann hob ich meine Schuhe auf und hängte sie mir über den Arm.
Ich flüsterte: »Warten wir, bis sie weg sind, oder versuchen wir diesen zweiten Ausgang zu finden?«
»Letzteres ist wahrscheinlich ungefährlicher. Weißt du noch, wo du aufgehört hast zu suchen?«
Ich nickte und schob mich aus dem Kistendschungel heraus. Als ich den Hauptraum durchquerte, sah ich mich nach dem Geist um und ignorierte nach besten Kräften die Blutspritzer an der Wand. So unangenehm er war, vielleicht konnte ich ihn erpressen – wenn ich drohte, ihn zu »melden«, sagte er mir vielleicht, wo die Tür war. Aber ich sah keine Spur von ihm. Typisch – immer da, wenn man sie nicht brauchen kann, nie dann, wenn man es tut.
Ich fand die betreffende Stelle an der Wand und suchte weiter. Einen Kistenstapel konnte ich selbst zur Seite schieben; dann stieß ich auf einen, der sich nicht von der Stelle bewegen ließ. Ich sah mich nach Jeremy um und entdeckte ihn in der Hocke neben einem dunklen Quadrat, das jenseits der Leiter in die Mauer eingelassen zu sein schien.
»Ist das –?«, flüsterte ich und brach ab, als er daran zu zerren begann.
Das Knacken brechenden Metalls. Er nahm den Deckel ab und streckte den Kopf ins Innere. Ich ging auf ihn zu.
Als ich mich der Leiter näherte, erschien ein Fuß aus der Luke oben. Ich stolperte rückwärts. Jeremy fuhr herum, sah den Fuß und winkte mir zu, ich solle in Deckung gehen. Ich ließ die Taschenlampe über die nächste Wand schwenken und hielt beim ersten Kistenstoß inne, der hoch genug war, um mich zu verbergen. Dann schaltete ich das Licht aus und rannte
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