Lockruf der Vergangenheit
einen Stammbaum, den ich mir einmal ansehen könnte?«
Marthas Blick schweifte über die Borde voller Bücher, die uns umgaben. Es war offensichtlich, daß sie nicht viel las. »Nicht daß ich wüßte.«
»Macht nichts. Ich habe viel Zeit.« Ich überlegte einen Moment. »Was kannst du mir über Tante Sylvia erzählen?«
»Tante Sylvia? Oh, sie war sehr alt, wenn auch nicht so alt wie Großmutter. Und sie hat nie geheiratet. Sie zog vor vielen Jahren mit ihrer Schwester hier ins Haus und blieb.«
»Ist sie auch am Wahnsinn zugrunde gegangen?«
»Aber nein. Tante Sylvia war eine Vauxhall, keine Pemberton. Nur die Pembertons haben diese Veranlagung – du, ich, Onkel Henry, Theo. Großmutter und Tante Anna sind keine Pembertons. Sie sind frei davon.«
»Als ich fünf Jahre alt war, Martha«, sagte ich, »wer lebte da in diesem Haus?«
Sie zögerte einen Moment, ehe sie antwortete. »Sir John und Abigail. Dann Tante Sylvia. Onkel Henry, Tante Anna und Theo. Meine Eltern mit Colin und mir. Und deine Eltern und du.«
»Und Thomas.«
»Ach ja, und dein Bruder Thomas.«
»An dem Tag damals waren also vierzehn Menschen hier im Haus. Und heute, zwanzig Jahre später, sind es nur noch sieben.«
»Ja. Aber zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, und einige von ihnen waren alt.«
»Aber nicht deine Eltern.«
Martha blickte auf ihre gefalteten Hände nieder. »Sie kamen bei einem Unfall ums Leben.«
»Martha.« Ich beugte mich vor. Ein wenig Hoffnung hatte ich noch. Wenn ich klug war und vorsichtig genug zu Werke ging, gelang es mir vielleicht, meine Cousine auf meine Seite zu ziehen. »Martha, verzeih mir, daß ich schlimme Erinnerungen ausgrabe, aber ich war zwanzig Jahre fort von hier und weiß so vieles nicht. Bitte, hab’ Geduld mit mir, Martha. Du hast deine Mutter und deinen Vater verloren. Ich habe genau wie du meine Eltern und dazu meinen Bruder verloren. Ich habe den Eindruck – « ich sprach jetzt langsam und bedächtig – »daß der Kreis der Erben ganz beträchtlich eingeschränkt – «
»Leyla!« rief sie und sprang so hastig auf, daß sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. »Leyla, wie kannst du so etwas sagen!«
»Martha! Bitte!« Ich warf einen Blick zur Tür.
»Wie kannst du so etwas Gemeines sagen? Meine Eltern sind bei einem Unfall umgekommen. Dein Vater hat Selbstmord verübt, und deine Mutter ist in London an einer Krankheit gestorben. Wie kannst du diese Todesfälle mit einem hinterlistigen Plan in Verbindung bringen!« Marthas Stimme wurde immer lauter und schriller. Ich hätte sie eines solchen Ausbruchs nicht für fähig gehalten.
»Was du denkst, ist abscheulich. Wir sind eine harmonische Familie. Du bist doch der Eindringling hier. Du bist die Fremde. Wir hatten dich vergessen bis zu dem Tag, an dem du plötzlich vor der Tür standst. Großmutter hat recht. Wenn es jemand auf das Erbe abgesehen hat, dann bist du es!«
»Das ist nicht wahr, Martha!« Jetzt sprang auch ich auf, versuchte, sie zu beschwichtigen.
»Was du gesagt hast, ist häßlich und gemein, Leyla. Mit dir kann man nicht befreundet sein.«
Als sie zur Tür wollte, faßte ich sie beim Arm. Doch ehe ich etwas sagen konnte, sagte Colin von der Tür her: »Laß sie los, Leyla. Du hast genug angerichtet.«
Ich warf ihm einen zornigen Blick zu. »Klopfst du eigentlich nie an?«
»Ich sagte, du sollst meine Schwester loslassen.«
Martha schob sich zwischen uns hindurch zur Tür hinaus. Ich hörte ihre Schritte auf der Treppe. Wohin wollte sie? Zu Großmutter, um ihr alles zu erzählen?
»Dich geht das überhaupt nichts an«, fauchte ich wütend. »Na hör mal, schöne Cousine.« Er gab der Tür einen Tritt, daß sie zuschlug, und ging langsam zum Kamin. »Alles, was die Pembertons angeht, geht auch mich an. Ich habe dir doch gesagt, daß die Familie eng verbunden ist.«
»Aber, warum – «ich stellte mich trotzig vor ihm auf – »will mir niemand meine Fragen beantworten?«
»Setz dich erst einmal hin.«
Wie ein trotziges Kind ließ ich mich in einen Sessel fallen. »Ist es dir denn so wichtig, dich an die Vergangenheit zu erinnern? Was versprichst du dir davon?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich habe das Gefühl, daß ich die Vergangenheit verändern kann. Und die Gegenwart auch.«
»Bist du denn mit der Gegenwart nicht zufrieden?«
»Nein, im Augenblick nicht. Ehe ich hierher kam, hatte ich eine völlig andere Vergangenheit – da glaubte ich, mein Vater und mein Bruder wären an der Cholera gestorben.
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