Lockruf der Vergangenheit
danach fragst, warum meine Schwester zweiunddreißig Jahre alt ist?«
»Das ist gemein!« rief ich zornig. »Jetzt bist du ungerecht. Aber eines kann ich dir sagen, Colin – « ich sprang auf und stemmte die Arme in die Hüften – »wenn du möchtest, daß ich hier weggehe, mußt du erst meine Fragen beantworten.«
Damit stürmte ich aus dem Zimmer und lief wenig damenhaft die Treppe hinauf. Wütend knallte ich die Tür von meinem Zimmer hinter mir zu. Dieser Mensch war unmöglich, unzuverlässig und unberechenbar.
Mein Blick fiel auf den Führer durch den Cremorne Park, und ich beschloß, augenblicklich einen Brief an Edward zu schreiben. Ich wollte ihm alles berichten, ihn um Rat und, wenn nötig, um Hilfe bitten. Ich wollte den Ruf meines Vaters wiederherstellen, und wenn ich mich durch dieses Bemühen selbst in Gefahr bringen sollte, so würde mir Edwards Wissen um die Situation Schutz und Sicherheit sein.
Ich hatte vielleicht eine Stunde geschrieben, als es klopfte. Zu meinen Füßen lagen zahlreiche zusammengeknüllte Blätter, und meine Wangen brannten. Es war nicht einfach die richtigen Worte zu finden, um Edward auf einleuchtende Weise die Situation zu beschreiben, die ich hier vorgefunden hatte.
»Herein«, sagte ich verdrossen.
Henry öffnete die Tür einen Spalt und schaute herein. »Schläfst du schon, Bunny?«
»Nein, nein! Komm nur herein.«
Beinahe verstohlen schob er sich durch die Tür und kam mit lautlosen Schritten auf mich zu. Nachdem er erst nach rechts und dann nach links gesehen hatte, flüsterte er: »Ich habe dich gestört.« Ich sah auf den Brief hinunter und legte meine Hände darauf. »Aber nein. Ich freue mich, daß du gekommen bist, Onkel Henry. Wollen wir uns an den Kamin setzen?«
Ich folgte ihm zum Sofa, verwundert über sein seltsames Verhalten. Wie immer umgab ihn jene Aura, aber das war es nicht, was mich sonderbar berührte. Es war etwas anderes, Unbestimmbares. Er zauderte, schien angestrengt nachzudenken und sah sich dabei mit hastigen Blicken im Zimmer um. »Was ist denn, Onkel Henry?«
Erst jetzt wandte er sich mir zu, und ich sah es: die zusammengezogenen Pupillen, den glasigen Blick. Mein Onkel mußte unter dem Einfluß von Opium stehen!
»Du hast deine Cousine Martha heute abend sehr erschreckt. Deine Worte beunruhigen uns alle. Du bist unvernünftig, Leyla, ich muß dich warnen.«
»Mich warnen?«
»Ja. Du solltest dich nicht um Dinge kümmern, die dich nichts angehen.«
»Der Tod meines Vaters und meines Bruders sollen mich nichts angehen? Das kann nicht dein Ernst sein!«
»Seither sind zwanzig Jahre vergangen, Bunny.«
»Ob es vor zwanzig Jahren war oder gestern, macht für mich keinen Unterschied. Ich verteidige die Ehre meines Vaters.«
»Aber das ist doch sinnlos, Kind! Das, was du dir unbedingt ins Gedächtnis zurückrufen möchtest, ist ein gräßlicher Alptraum. Wenn du dich eines Tages wirklich daran erinnern solltest, was du damals im Wäldchen sahst, wirst du erkennen, daß wir dir die Wahrheit gesagt haben, glaube mir.«
»Wenn das stimmt, Onkel, warum scheint ihr dann alle zu fürchten, daß ich mich erinnern könnte?«
»Einzig um deinetwillen, Bunny.«
»Und ihr wünscht euch nur, daß ich nach London zurückkehre und Edward heirate. Ist das richtig?«
Henry antwortete nicht. Sein Blick huschte unablässig suchend im Zimmer umher. Ich hätte gern gewußt, warum er das Laudanum genommen hatte.
»Oder – « ich senkte die Stimme – »wollt ihr lieber, daß ich gar nicht heirate?«
Er drehte sich um und faßte mich bei den Händen. Seine Handflächen waren klamm und feucht. »Wenn du heiratest, Leyla, gibst du die Krankheit der Pembertons weiter.«
»Eine solche Krankheit gibt es nicht, Onkel Henry. Wie kannst du an ein solches Märchen glauben?«
»Weil ich weiß, daß es wahr ist.« Henrys Gesicht verfinsterte sich. »Du hättest niemals hierher zurückkommen sollen, Leyla – «
»Aber ich bin zurückgekommen. Und ich lasse mich von meinem Vorhaben nicht abbringen. Ich werde mir meine Erinnerungen zurückholen, und wenn sie noch so schrecklich sind. Sie gehören mir.«
»Aber vielleicht kommen sie nie zurück, Leyla.«
»Ich weiß, daß sie zurückkommen werden.«
»Von uns wird dir keiner helfen.«
Das wußte ich bereits. Anna hatte mir von Anfang an nicht geholfen. Colin war jetzt ebenfalls dagegen, daß ich die Wahrheit erfuhr. Martha war mir böse. Und Theo – was für eine Haltung nahm er ein? Ich konnte mir
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