Lockruf der Vergangenheit
vor allem im zweiten Stockwerk, wo viele Zimmer leerstanden. Während ich über den staubigen Teppich ging und die modrige Luft atmete, bemühte ich mich, mit offenen Sinnen auf alles zu achten, um auch nicht den kleinsten Anstoß zu einer Erinnerung zu übersehen. Aber es kam nichts. Im zweiten Stockwerk, wo wir alle unsere Zimmer hatten, waren zwei lange Flure, die noch nicht so lange unbewohnt zu sein schienen wie die Seitenflügel. Hier und dort war sogar noch Öl in den Lampen. Vorsichtig drehte ich einen Türknauf nach dem anderen, aber die Zimmer waren alle abgeschlossen. Bis auf eines.
Dieser Raum mußte noch bis vor kurzem bewohnt gewesen sein. Der Tisch neben der Tür war noch nicht von Staub bedeckt, die Topfpflanze schien vor kurzem noch gegossen worden zu sein. Langsam schob ich die Tür weiter auf, leuchtete mit der Kerze und sah, daß ich mich in einem Schlafzimmer befand. Ohne die Tür hinter mir zu schließen, trat ich weiter ins Zimmer, bis ich alles erkennen konnte. Der reingefegte Kamin, das Fehlen von Lampen und Kerzen verrieten, daß das Zimmer nicht mehr benutzt wurde. Aber die Möbel standen alle richtig an ihrem Platz. Ich fragte mich, wer in diesem Zimmer gelebt hatte. Als ich näher zum Bett trat, überkam mich plötzlich das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Dieses Zimmer kannte ich, oder hatte es früher einmal gekannt; seine Atmosphäre war angenehm, freundlich. Auf dem Nachttisch lag ein Buch, in Leder gebunden und ohne Titel. Ich stellte die Kerze nieder und schlug es auf.
Es war Sylvia Vauxhalls Tagebuch von 1856. Die Seiten waren in einer schön geschwungenen Schrift beschrieben. Während ich las, was sie diesem Buch anvertraut hatte, stieg ein Strom von Gefühlen in mir auf, von Liebe und Sehnsucht, der mir die Tränen in die Augen trieb. Ich fühlte mich Tante Sylvia plötzlich unglaublich nahe, dieser Frau, an die ich mich nicht erinnern konnte und von der ich doch wußte, daß ich als Kind sehr an ihr gehangen hatte.
Wie traurig, daß es mir nicht vergönnt gewesen war, sie wiederzusehen. Wie wunderbar wäre dieses Wiedersehen geworden! Die anderen hätten mich nicht zu kümmern brauchen, denn Tante Sylvia wäre ja hier gewesen, um mir die Wärme und die Liebe zu geben, die ich ersehnt hatte. Glücklich und traurig zugleich, wischte ich mir eine Träne von der Wange und erstarrte. Mein Blick lag wie gebannt auf den Seiten des Tagebuchs. Mit einem Schlag wurde alle Wehmut von eisigem Entsetzen weggefegt. Die Handschrift auf diesen Blättern, die fein geschwungenen Bögen, diese weiche, flüssige Schrift war nicht die gleiche wie die in Tante Sylvias Brief.
Ich war völlig verwirrt. Das war ihr Tagebuch, aber die Schrift war eine andere. Der Brief an Mutter war in einer festen, energischen Handschrift geschrieben gewesen, mehr kantig, als weich und schwungvoll. Aber in wessen Schrift?
Ich stand da und betrachtete das Tagebuch. Plötzlich hörte ich hinter mir die Tür ins Schloß fallen. Mit einem unterdrückten Aufschrei fuhr ich herum.
»Mein Gott, hast du mich erschreckt«, sagte ich atemlos zu der Silhouette an der Tür.
Ein leises Lachen antwortete mir.
»Bist du das, Theo?« Ich griff hinter mich, nahm die Kerze und hielt sie hoch. Colins Gesicht tauchte aus dem Dunkel.
»Was hast du in Tante Sylvias Zimmer zu suchen?« fragte er in anklagendem Ton.
»Ich – ich habe einen Rundgang durch das Haus gemacht. Ich dachte, ich würde mich vielleicht an irgend etwas erinnern. Das Zimmer war nicht abgeschlossen…«
»Ziemlich taktlos, einfach ein fremdes Tagebuch zu lesen, meinst du nicht?«
Ich sah wieder auf das Buch. Meine Augen brannten. »Ich fühlte mich ihr plötzlich so nahe. Ich konnte mich beinahe an sie erinnern.«
»Und was hat es dir sonst noch gesagt?« Mit einem Ruck hob ich den Kopf. »Was meinst du damit?«
»Wirst du darin erwähnt? Hast du deshalb darin gelesen? Ich wette, du hast eine Enttäuschung erlebt, liebe Leyla. Tante Sylvia hat nie von dir gesprochen. So wenig wie wir anderen.«
»Nein – nein, von mir steht nichts in dem Buch.« In meinem Kopf schwirrte es. Wer hatte den Brief geschrieben? »Ich will dir etwas sagen, Leyla«, sagte Colin und kam einen Schritt näher. »Es ist nicht ganz ungefährlich allein durch dieses Haus zu streifen. Manche der Treppen, die nicht mehr benutzt werden, sind in schlechtem Zustand. Du hättest leicht stürzen können. Das nächstemal suchst du dir Begleitung.«
»Die anderen schlafen ja
Weitere Kostenlose Bücher