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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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die Tür und fragte mich, wie ich das, was auf mich zukam, aushalten sollte. Meine Großmutter hatte mich zurückgestoßen. Henry hatte mich enttäuscht. Martha war mir böse, und auf Colin war kein Verlaß. Wer blieb da noch? Anna? Nein, sie würde sich dem Willen meiner Großmutter noch eher beugen als ihr Mann. Theo? Der würde sich auf die Seite seiner Eltern stellen. Wer dann?
    Wie in Trance bewegte ich mich im Zimmer, sah in die verlöschende Glut im Kamin und ging zum Fenster. Ich kam mir vor wie in einem Käfig, wie eine Gefangene, die aus einer Welt, die sie nicht verstehen kann, in eine Welt des gesunden Menschenverstands hinausblickt. Wieviel vernünftiger wäre es für mich gewesen, nach London zurückzukehren und meinen Platz an Edwards Seite einzunehmen. Aber Liebe, Haß und Schmerz kennen keine Vernunft.
    Wenn ich Edward dazu bewegen könnte, hierher zu kommen, würde ich den Kampf nicht allein zu führen brauchen. Aber bis dahin mußte ich jemanden haben, mit dem ich sprechen konnte, der mir meine Fragen beantwortete.
    Da fiel mir Gertrude ein, die Haushälterin. Ihr Gesicht an dem Abend, als sie mich das erstemal gesehen hatte, stand deutlich vor meinen Augen. Ihren Ausdruck wußte ich jedoch nicht zu deuten. War es Schrecken gewesen? Furcht? Oder nur Überraschung? Wie betrachtete sie meine Heimkehr? Ich konnte mir vorstellen, daß Gertrude in meiner Kindheit eine wichtige Rolle für mich gespielt hatte; vielleicht hatte sie gelegentlich das Kindermädchen vertreten. Wenn das zutraf, dann dachte sie vielleicht mit Wehmut an jene Zeit zurück, dann war sie vielleicht bereit, mir Auskunft zu geben.
    Doch das mußte heimlich geschehen, das war wichtig. Der Brief an Edward ging mir jetzt leicht von der Hand. Der Besuch meines Onkels hatte mich in meinem Beschluß bestärkt, die ganze Wahrheit herauszufinden, gleich, um welchen Preis. Ich schrieb einfach das nieder, was ich fühlte und empfand. Während der letzten Worte hoffte ich aus tiefstem Herzen, er würde meine Verzweiflung erkennen und unverzüglich zu mir eilen.
    Nachdem ich den Umschlag versiegelt hatte, beschloß ich, ihn am folgenden Morgen von einem der Mädchen nach East Wimsley bringen zu lassen. Von dort aus würde er in zwei Tagen in London sein. Wenn Edward dann gleich aufbrach, konnte ich hoffen, ihn in spätestens sechs Tagen zu sehen.
    Erleichtert und ermutigt, machte ich mich bereit zum Schlafengehen. Das Zimmer war kalt und dunkel, aber nicht mehr so fremd wie zuvor. Als ich mich mit Behagen in das weiche Bett sinken ließ, dachte ich mit Unruhe daran, was der folgende Tag bringen würde. Ich war überzeugt, daß im Wäldchen alle Erinnerung wiederkehren würde. Alles würde sich offenbaren. Und ehe ich einschlief, dachte ich, werde ich auch dieses Haus erforschen und nach Erinnerungen aus meiner Kindheit suchen.
    Kurz vor Tagesanbruch erwachte ich frisch und ausgeruht, das erstemal, seit ich in diesem Haus war. In aller Eile machte ich Toilette und schlich, während alle noch schliefen, die Treppe hinunter.
    Die Hausangestellten saßen bereits in der Küche vor dem großen Herd, in dem schon Feuer brannte. Sie grüßten höflich, als ich eintrat. Ich gab einem Mädchen, das ich schon kannte, den Brief und eine Pfundnote, und betonte nachdrücklich die Dringlichkeit der Besorgung. Ohne ein Wort, aber sichtlich erfreut über das Geld, griff sie hastig nach einem Mantel und eilte davon. Die anderen betrachteten mich stumm, alle noch zu jung, als daß sie vor zwanzig Jahren schon hätten im Haus gewesen sein können.
    »Wo ist Gertrude?« fragte ich.
    »Noch nicht da, Madam«, antwortete ein Mädchen. »Sie kommt immer erst um sechs, Madam. Soll ich sie ‘raufschicken, Madam?«
    »Nein, nein, nicht nötig. Danke.«
    Bis zu meinem Gespräch mit Gertrude blieb mir also noch eine Stunde Zeit, und die Familie würde sicher nicht vor sieben aufstehen. Einen besseren Zeitpunkt für die Erforschung des Hauses meiner Kindheit, gab es nicht, zumal ich hellwach und voller Optimismus war. Die Flure waren dunkel und kalt. Die beiden Seitenflügel des Hauses waren verschlossen, da sie nicht mehr bewohnt wurden. Aber ich stellte mir vor, daß es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der die Familie groß gewesen war und häufig Gäste beherbergt hatte, so daß jedes Zimmer genutzt worden war. Jetzt, da nur sieben Menschen hier lebten und Besuch selten war, wurde nur noch der Mittelteil des Hauses bewohnt. Ich stieß auf viele verschlossene Türen,

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