Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
Vom Netzwerk:
meine Erinnerungen nur mit Hilfe meiner eigenen Willenskraft zurückerobern.
    »Wie willst du dich an Dinge erinnern, die seit zwanzig Jahren verschüttet sind?«
    Ich sah Henry ruhig an und antwortete: »Indem ich morgen ins Wäldchen gehe.«

 
    7
     
     
     
    Er starrte mich lange mit leerem Blick an, so daß ich mich fragte, ob er meine Worte überhaupt gehört hatte. Schließlich jedoch fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen und sagte leise: »Du darfst nicht ins Wäldchen gehen, Leyla. Niemals.«
    Er mußte meinem Vater so ähnlich sein – Gesicht, Stimme, Körperhaltung. Unter anderen Umständen hätte ich diesen Mann geliebt; aber das konnte ich nicht, solange ich ihn fürchtete. Es war nicht Angst, sondern eher eine Art von Mißtrauen, wie weit er gehen würde, um das Familiengeheimnis zu bewahren. Henry würde mir niemals etwas Böses antun, dessen war ich gewiß, aber seine Gegnerschaft konnte mich sehr unglücklich machen.
    »Ich werde gehen, weil ich gehen muß, damit ich mich erinnere.«
    »Ich weiß, was du für einen Plan hast, Leyla. Ich weiß, worauf du hinauswillst. Indem du die Unschuld deines Vaters erklärst, schiebst du die Schuld einem anderen Mitglied der Familie zu. Du beschuldigst einen Pemberton des Mordes!«
    »Mein Vater war auch ein Pemberton, und ihr denkt euch nichts dabei, ihn zu beschuldigen.«
    »Das war etwas anderes. Er wurde vom Wahnsinn zu der Tat getrieben.«
    »Wie einfach für euch alle. Aber ich glaube nicht daran.«
    »Aber, Bunny, wer von der Familie hätte einen Grund gehabt! Es war auch sehr häßlich von dir, zu Martha zu sagen, wir würden um das Familienvermögen streiten. Ich hätte dich solcher Gedanken nicht für fähig gehalten.«
    Das tat weh. Wenn sie meinen Vater, der sich nicht mehr wehren konnte, des Mordes beschuldigten, so war das völlig in Ordnung. Wenn ich hingegen einen von ihnen beschuldigte, so war das gemein und niedrig. »Ich gehe morgen ins Wäldchen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«
    Henry schien sich völlig in eine eigene Welt zurückzuziehen. Ich hatte keine Ahnung, wieviel Laudanum er genommen hatte und warum, aber ich wußte, daß es ein sehr starkes Schmerz- und Betäubungsmittel war.
    Ich bekam eine Erklärung, als er stöhnend die Hand an die Stirn drückte und sagte: »Diesmal ist es schlimmer als je zuvor.«
    »Was ist schlimmer, Onkel Henry?«
    »Die Kopfschmerzen. Ach, diese Kopfschmerzen. Sie sind zermürbend, Leyla.«
    Ich sah Henry leicht beunruhigt an. »Wieviel Laudanum hast du genommen, Onkel?«
    Sein Blick glitt an mir vorbei. »Deine Tante Anna hat es mir mit dem Tee gegeben. Aber diesmal brauche ich mehr. Dieser gräßliche Wind bläst durch alle Ritzen. Daher kommen die Kopfschmerzen.«
    »Hat mein Vater auch Kopfschmerzen gehabt, Onkel?«
    »Wie? Oh, ich muß gehen. Mutter erwartet, daß ich noch einmal nach ihr sehe, ehe sie zur Ruhe geht.«
    »Großmutter kann ruhig einen Moment warten – « Er lachte laut und gequält. »Wie wenig du weißt, Bunny. Niemand läßt Abigail Pemberton warten.« Unsicher stand er auf und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Geh nach London zurück, Leyla, solange du kannst.«
    »Das werde ich nicht tun, Onkel. Jedenfalls jetzt nicht.« Während er leicht taumelnd neben mir stand, schweiften seine Augen von neuem durch das Zimmer, und ich sah, wie sein Blick auf meinem Brief an Edward haften blieb. »Du schreibst einen Brief?«
    »Nein«, log ich. »Ich habe mir nur ein paar Notizen für mein Tagebuch gemacht.«
    Henry lachte ein wenig. »Entschuldige, Bunny, aber ich muß jetzt gehen. Mir zerspringt der Kopf. Wir können uns morgen weiter unterhalten, wenn es dir besser geht.«
    »Aber es geht mir gut.«
    »Würdest du mich zur Tür bringen? Ich bin ein bißchen unsicher auf den Beinen.«
    Ich mußte ihn führen wie einen Betrunkenen. Offenbar hatte er seinen Tee mit dem Laudanum unmittelbar ehe er zu mir gekommen war, getrunken; jetzt erst schien sich seine Wirkung zu entfalten. An der Tür blieb er stehen. »Schlaf gut, Bunny.«
    »Gute Nacht, Onkel Henry.« Ich küßte ihn auf die Wange, aber er schien es gar nicht zu bemerken. Während ich ihm nachblickte, wie er torkelnd durch den dämmrig erleuchteten Flur zu seinem eigenen Zimmer ging, überkam mich eine Welle der Verzweiflung. Henry war wahrhaftig eine tragische Gestalt. Er war ein schwacher Mensch, von dem ich keine Unterstützung zu erwarten hatte.
    Zurück in meinem Zimmer lehnte ich mich mit schwerem Herzen an

Weitere Kostenlose Bücher