Lockruf der Vergangenheit
noch.«
»Aber jetzt bin ich da und kann dich herumführen. Theo und Henry sind ebenfalls aufgestanden, aber sie sind schon nach East Wimsley gefahren.«
»Fährst du nie hin?«
»Ich habe mit dem Geschäft nichts zu tun. Mein Onkel und mein Vetter halten mich beide für unfähig, obwohl es einmal eine Zeit gab, in der ich sehr häufig mit der Leitung der Geschäfte zu tun hatte. Aber das ist lange her, und es war nur für kurze Zeit.«
»Wann war das?«
Sein Gesicht verschloß sich. »Nachdem deine Mutter mit dir fortgegangen war. Onkel Henry ging mit Tante Anna und Theo nach Manchester, um unsere dortige Fabrik zu leiten. Ich blieb mit meinem Vater hier und führte für Großvater die Geschäfte. Aber dann – « er stockte – »dann kamen meine Eltern bei dem Unfall ums Leben und Onkel Henry kam mit seiner Familie zurück. Er übernahm gemeinsam mit Theo die Leitung der hiesigen Fabrik, und so ist es geblieben.« Er lachte kurz auf. »Diese Fabriken sind mir gleichgültig. Ich bin kein Geschäftsmann. Ich bin der geborene Müßiggänger. Außerdem – « seine Stimme wurde hart – »ist es nicht nach meinem Geschmack, Baumwollspinnereien zu leiten, in denen es stinkt, daß die armen Menschen, die dort schuften, kaum atmen können und alle möglichen widerwärtigen Krankheiten bekommen. Ich bin kein Reformer, aber ich finde die Bedingungen, unter denen diese Leute dort arbeiten müssen, ungeheuerlich.«
Ich war erstaunt über die plötzliche Leidenschaft in seiner Stimme. Seine Worte überraschten mich. Sie stimmten genau mit dem überein, was ich dachte.
»Und mein hochherziger Onkel Henry war tatsächlich gegen den Zehn-Stunden-Tag, liebe Leyla. Er behauptete, er würde den Arbeitern nur mehr freie Zeit geben, um sich ins Wirtshaus zu setzen. Da kann ich nur sagen, um so besser für sie! Ich sage dir eines, irgendwann wird der Acht-Stunden-Tag kommen und Kinderarbeit überhaupt verboten werden. Und wenn dieser Tag kommt – « Colin brach ab. Er wirkte beinahe verlegen. »Ja, sprich weiter! Stell dir vor – «
Er unterbrach mich mit einer Handbewegung. Das Feuer war erloschen. Plötzlich war er wieder der alte Colin, der sich nur um sich selbst kümmerte.
»Komm, Leyla, gehen wir, in diesem Zimmer findest du doch nichts.« Ich legte das Tagebuch wieder auf den Nachttisch und stellte die Frage, wer meiner Mutter den Brief geschrieben hatte, fürs erste zurück. Als wir wieder im Flur standen, nahm Colin mir die Kerze ab und hielt sie nahe an mein Gesicht.
»Du siehst deiner Mutter unglaublich ähnlich«, sagte er leise. »Und meinem Vater nicht?«
Er kniff die Augen zusammen. »Doch, deinem Vater auch. Man sieht dir an, daß du eine Pemberton bist, verflucht, wie alle Pembertons.«
»Hör’ auf mit dem Unsinn, Colin!«
»Ach, Leyla, wenn du wüßtest, wie lebendig durch deinen Anblick die Vergangenheit wird. Ich war damals zwar erst vierzehn, aber ich war alt genug, um einen Blick für Schönheit und Anmut zu haben. Ach, wie habe ich damals gehofft, wenigstens einmal einen Blick auf die zarten Fesseln deiner Mutter zu erhaschen! Sie war zwar meine Tante, aber ich brauchte sie nur zu sehen, um im Fieber der Leidenschaft zu entbrennen.«
»Ach, Colin!« Ich lachte.
»Und du, Leyla, du launisches Frauenzimmer. Damals hingst du mit abgöttischer Liebe an mir! Aber davon ist jetzt nichts mehr übrig, oder?« Er sah mich forschend an.
»Du mußt dich getäuscht haben, Colin. Ich habe dich bestimmt nur als älteren und klügeren Bruder gesehen, so wie jetzt. Es wäre doch unvorstellbar gewesen, daß ich mich in meinen Vetter verliebe.«
»Weißt du noch, daß ich dir oft vorgelesen habe?« Ich versuchte, mich zu erinnern. »Nein…«
»Und einmal habe ich dir zum Geburtstag eine Laterna Magica geschenkt. Ich bastelte wochenlang daran herum – «
»Colin!« Ich schrie fast seinen Namen und packte ihn aufgeregt beim Handgelenk. Nicht nur ein vages, undeutliches Bild, sondern eine klare, lebendige Erinnerung. »Ich glaube, ich erinnere mich. War ein Bild von einem kleinen Hasen darauf? Und das Häschen hatte ein Kleid an, das wie meines aussah. Das Häschen sollte ich sein, und wenn ich die Kurbel drehte, hopste es auf und ab. Colin, ich erinnere mich ganz genau!«
»Ich habe ewig gebraucht, um das Ding fertigzubekommen, Leyla, aber es lohnte sich. Du hättest sehen sollen, wie dein Gesicht strahlte, wenn du damit spieltest. Ich bin froh, daß du dich erinnerst.«
»Ja, ganz deutlich.«
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