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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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Unwillkürlich grub ich meine Finger tiefer in seinen Arm. Weitere bruchstückhafte Erinnerungen kamen zurück, wie Steine eines Mosaiks. Ich sah die Geburtstagsfeier im Speisezimmer, eine Torte und Leckereien auf dem Tisch, der mir in der Erinnerung riesig erschien. Ich sah wogende Röcke, um mich herum ein Farbenmeer von Rosarot und Blau. Ich erinnerte mich an die Laterna Magica und wie ich Colin vor Freude um den Hals gefallen war. »Täusche ich mich, oder wirst du rot, schöne Cousine?« Die Bilder verschwanden, ich sah Colin an. »Und meine Hand ist bereits völlig taub.«
    Ich ließ seinen Arm los. »Mir ist plötzlich alles wieder eingefallen. Das ganze Geburtstagsfest. Aber ich konnte nur Hosenbeine und Röcke sehen, keine Gesichter.«
    »Das wird schon noch kommen.«
    Er sah mich schweigend an, und während ich von seinem Blick gefangen war, versuchte ich, ohne zu wissen warum, mir Edwards Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Und konnte es nicht. »Ich dachte, du möchtest nicht, daß ich mich erinnere.«
    »Doch, Leyla, an die glücklichen Zeiten schon. Sie gehören dir. Aber nicht an die schlimmen Tage. Das würde dir wehtun.«
    »Ich muß trotzdem hin, Colin. Ich muß ins Wäldchen. Ich gehe heute hinunter und – «
    Jetzt packte Colin mich beim Arm, und so heftig, daß ich zusammenzuckte. »Das kann nicht dein Ernst sein, Leyla. Geh nicht!«
    »Aber ich muß! Colin, du tust mir weh.«
    »Das ist doch Wahnsinn! Es kann dir passieren, daß du dich an überhaupt nichts erinnerst und dennoch das Grauen fühlst und die Angst jenes Tages.«
    »Bitte, laß mich los!«
    Zornig stieß er mich von sich. Wie rasch bei diesem Mann die Stimmung wechselte. Seine plötzlichen Ausbrüche, seine Unberechenbarkeit ängstigten mich. »Leyla, bitte – «
    »Ich gehe, Colin.«
    »Dann laß mich mitgehen. Erlaube mir, daß ich dich begleite. Vielleicht brauchst du mich, wenn – du dich wirklich erinnern solltest.« Seine Fürsorge tat mir gut. »Komm mit. Ich gehe heute nachmittag.«
    »Gut. Wenn du jetzt noch mehr vom Haus sehen willst, dann laß mich dich führen.«
    Gertrude fiel mir plötzlich ein. »Nein, danke, Colin. Ich bin ein bißchen müde und möchte mich noch ein Weilchen hinlegen. Wir sehen uns später, wenn es dir recht ist.«
    Er begleitete mich zu meinem Zimmer, wartete, bis ich die Tür geschlossen hatte, und ging dann den Flur entlang, vermutlich die Treppe hinunter. Ich hatte nicht ganz die Unwahrheit gesagt, als ich erklärte, müde zu sein. Die Erkenntnisse dieses Morgens hatten mich nicht nur tief getroffen, sondern auch recht mitgenommen, insbesondere das Geheimnis um Tante Sylvias Brief. Ich setzte mich auf das Sofa am Kamin und las ihn wohl zum zwanzigstenmal.
    ›Liebe Jenny‹, stand da, ›verzeih dieses plötzliche Schreiben nach so vielen Jahren des Schweigens. Ich verspüre eine starke Sehnsucht, Dich zu sehen. Ich kann mir vorstellen, daß Du kaum gute Erinnerungen an Pemberton Hurst hast, und ich kann es verstehen. Aber das ist alles lange her, und so vieles hat sich seither verändert. Ich möchte Dich und Leyla gern sehen, aber ich kann nicht nach London kommen. Ich bin jetzt eine alte Frau und möchte in meiner Familie sein, wenn der Herr mich ruft. Kannst Du nicht für einige Tage hierher zurückkommen und Leyla mitbringen? Dann könnte mein Herz Frieden finden. In Liebe, Tante Sylvia‹
    Ein schlichter Brief, der aber eindeutig nicht von Sylvia Pemberton geschrieben war. Doch wer in diesem Haus hatte meine Mutter und mich hierhaben wollen? Und warum hatte der Betreffende nicht im eigenen Namen geschrieben, sondern sich hinter Tante Sylvia versteckt, die damals kurz vor dem Tod gestanden haben mußte?
    Von allen Rätseln, die mir hier begegnet waren, schien mir dies das unergründlichste.
    Ich war dem Ruf dieses Briefes gefolgt, doch alle im Haus waren, so hatte es jedenfalls den Anschein, über mein Kommen höchst überrascht gewesen. Und alle schienen sie meine baldige Abreise zu wünschen. Das konnte nur eines bedeuten: Jemand sagte die Unwahrheit.

 
    8
     
     
     
    Gertrude kam gleich, als ich sie rief. Zögernd blieb sie an der Tür stehen. Wir hatten bisher kaum miteinander gesprochen, doch ich hatte immer noch die Hoffnung, daß ich von ihr etwas erfahren würde. Aber, das hatte ich inzwischen gelernt, ich mußte vorsichtig zu Werke gehen. Gertrudes Blick sagte mir eindeutig, daß sie sich nicht bereitwillig öffnen würde. »Gertrude«, sagte ich, während wir nebeneinander im

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