Lockruf der Vergangenheit
Zimmer standen, »wir haben noch gar keine Gelegenheit gehabt, miteinander zu sprechen. Dabei haben wir uns doch soviel zu erzählen. Von früher, meine ich.«
»Ja, Miss Leyla, aber wissen Sie, mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut.«
»Meines auch nicht, das haben Sie sicher schon bemerkt. Aber ich möchte so gern die alten Erinnerungen auffrischen. Vielleicht können Sie mich dabei unterstützen.«
»Ich würde Ihnen bestimmt gern helfen, Miss Leyla, aber ich glaube nicht, daß ich es kann.«
»Wir könnten es wenigstens versuchen. Vor zwanzig Jahren waren wir doch sicher gute Freunde. Das habe ich im Gefühl.«
»O ja, das waren wir!«
Wir setzten uns beide auf das Sofa vor dem kleinen Tisch, auf dem Tee und Toast bereitstanden. Das klare Licht des frühen Morgens fiel durch das Fenster und warf helle Streifen auf den Teppich. Der Wind pfiff immer noch um das Haus, aber der Himmel leuchtete herrlich blau. Bemüht, ihr die Befangenheit zu nehmen, schenkte ich uns beiden ein. Die Jahre waren freundlich gewesen zu unserer alten Haushälterin, die rosige Haut ihres Gesichts hatte kaum Falten. Sie war vielleicht sechzig, rundlich und klein, eine gute Köchin, die gern von ihren eigenen Speisen probierte, wie mir schien.
»Ich hab’ viel zu tun, Miss Leyla. Die Familie steht bald auf.«
»Aber bis dahin ist doch noch ein bißchen Zeit. Sonst kommen wir ja gar nicht zum Plaudern. Und wir haben uns soviel zu erzählen.«
»Wenn Sie meinen, Miss Leyla.«
»Ich weiß es, Gertrude. Ich meine, Sie müssen mich als Kind doch sehr gut gekannt haben. Haben Sie nicht damals immer für uns Kinder gebacken? Und Ihre Spezialität waren Lebkuchen, nicht wahr?«
»Nein, Miss Leyla. Ihre Tante Sylvia hat die Lebkuchen gebacken. Von mir haben Sie und die anderen Kinder immer am liebsten Apfelstrudel gegessen.«
»Ach ja, natürlich.« Keinerlei Erinnerung regte sich. »Und im Winter mußte ich Ihnen immer heiße Schokolade machen. Die tranken Sie mit Vorliebe.«
»Ach, ja?«
Gertrude blieb steif und zurückhaltend. Zweifellos hatte sie genaue Anweisungen erhalten. Aber ich hoffte auf eine Gefühlsregung von ihr. »Hat mein Bruder auch so gern Ihre Schokolade getrunken, Gertrude?«
Sie setzte sich noch steifer hin. Offenbar hatte ich hier einen wunden Punkt getroffen. »Der kleine Thomas war wie alle anderen. Er liebte alles, was ich machte, Hauptsache, es war schön süß.«
»Ich kann mich nicht an ihn erinnern, Gertrude. Können Sie mir ein wenig von ihm erzählen?«
»Ich habe leider ein schlechtes Gedächtnis, Miss Leyla. Ich kann Ihnen nichts sagen.«
Der Wind pfiff durch die Fensterritzen und durch den Abzug des Kamins. Mich fröstelte. Ich setzte meine Teetasse ab und legte meine Hand auf ihren Arm. Bis jetzt hatte sie mich nicht ein einziges Mal angesehen. »Gertrude, bitte, verstehen Sie doch. Ich habe alle Erinnerung an meine ersten Kinderjahre verloren und ich möchte sie so gern zurückhaben. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir helfen.«
Doch ihr Gesicht blieb unbewegt. Meine Hoffnung auf eine Gefühlsregung war fehlgeschlagen. Oder aber ich hatte ihren Pflichteifer unterschätzt. Von wem auch immer der Befehl zu schweigen gekommen war – von meiner Großmutter oder Henry – , sie würde sich fest daran halten.
»Nun ja«, sagte ich seufzend. Diesmal war die Enttäuschung leichter zu ertragen. Erst meine Tante und mein Onkel, dann meine beiden Vettern und meine Cousine, dann meine Großmutter und jetzt Gertrude. Alles vergeblich. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange von der Arbeit abgehalten, Gertrude. Ich hatte so gehofft, Sie könnten mir auf meiner Suche ein wenig helfen. Sie können gehen, wenn Sie möchten.«
»Die Familie möchte sicher das Frühstück – «
Wir standen gleichzeitig auf, und ich machte einen letzten Versuch. Ich drückte meine Hand an die Stirn, stöhnte ein wenig und murmelte: »O, mein Kopf.«
Gertrude fuhr erschrocken herum und sah mich an. Tiefe Bekümmerung sprach aus ihren Augen. So unrührbar war sie also doch nicht. »Haben Sie Kopfschmerzen, Miss Leyla?«
»Es ist nicht schlimm.« Ich hatte überhaupt keine Kopfschmerzen. Ich hatte nur zu dieser List gegriffen, um Gertrude vielleicht doch noch erweichen zu können. »Haben Sie öfter Kopfschmerzen?«
»Ja, ab und zu. Es fällt mir erst jetzt auf, wo Sie fragen. In den letzten Monaten kam es immer wieder mal. Woher wußten Sie das?«
»Arme kleine Leyla. Daran litt auch Ihr Vater. Er litt in den letzten
Weitere Kostenlose Bücher