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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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sie nicht sehen, die fünfjährige Leyla, den siebenjährigen Thomas, die zwölfjährige Martha und den vierzehnjährigen Colin. Ich machte die Augen wieder auf. Nur ein kleiner dunkler Wald, der vom Sturm geschüttelt wurde, winkte mir. Der erste Schritt fiel mir am schwersten; dann ging es leichter. Ich hielt meinen Umhang fest und drängte vorwärts. Dabei hatte ich das Gefühl, als träte ich durch eine Tür in die Vergangenheit. Die Umgebung veränderte sich: Der Wind schien sich zu legen, sein Brausen war nur noch gedämpft zu hören; die Luft wurde klarer, herber; ein Geruch nach feuchter Erde umgab mich. Waren diese Eindrücke Teil der Vergangenheit? Waren sie heute hierher zurückgekehrt, um mich zu begleiten? Oder waren sie Ausgeburten meiner Phantasie? Irgendwo mitten im Wäldchen machte ich halt. Die Augen brannten mir von der Anstrengung, alles aufzunehmen, jede kleinste Einzelheit, die mein Gedächtnis hätte anregen können. Meine Ohren lauschten auf jedes Geräusch, meine Nase sog alle Düfte und Gerüche in sich ein. Alle meine Sinne öffnete ich weit, um das Wäldchen zu erfassen und zu umschließen; ich hoffte, einen kleinen Anhaltspunkt zu finden, der mir schlagartig die Vergangenheit wieder zu Bewußtsein bringen würde. Dieser Steinhaufen. Dieser glatte Felsblock dort. Die moosbewachsene Mauer aus grauem Stein. Der verrottende Baumstamm. Würde eines dieser Dinge in meinem Geist eine Kettenreaktion auslösen, die die Barriere einreißen würde?
    War es hier geschehen? Hatte ich als Fünfjährige hier, an dieser Stelle, gestanden und gesehen, daß dort bei der abgebröckelten alten Mauer die Morde verübt worden waren?
    Ich schaute zu dem Fleckchen blauen Himmels hinauf, das sich plötzlich zwischen den Baumwipfeln zeigte, und gleichzeitig wurde ein Bild aus der Vergangenheit greifbar: Das eines goldenen Ringes, der einen roten Stein hatte.
    Ich senkte den Blick wieder, während mein inneres Auge das Bild eines Ringes festhielt. Ein Ring an einer Männerhand. Nein… Vielleicht doch keine Männerhand. Eine schmale, knochige Hand. Der Rubinring funkelte in der Sonne. Er war mir bekannt. Ich hatte ihn schon einmal gesehen.
    Das Bild ging mir verloren, und ich stand wieder einsam im Wäldchen. Was hatte er zu bedeuten, dieser Rubinring im hellen Sonnenlicht? Wie näherte man sich nur dem Bewußtsein eines fünfjährigen Kindes? Ich konnte keine Verbindung herstellen zwischen diesem Ring – es war der, den Theo jetzt trug – und dem, was vor zwanzig Jahren im Wäldchen geschehen war. Es war unmöglich, daß der Mörder den Ring getragen hatte. Hatte der Ring an jener Hand gesessen, die das Messer geführt hatte? Oder gehörte er zu einer ganz anderen Erinnerung an das Wäldchen? Vielleicht war ich als Kind mit meinem Großvater, Sir John, hierher gekommen und war fasziniert gewesen von seinem Ring. Dann war das Bild Teil einer glücklichen Erinnerung und gehörte nicht zu dem Tag, an dem die Morde verübt worden waren.
    Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß ich nicht mehr allein war. Unwillkürlich zog ich fröstelnd die Schultern zusammen, während ich mich rasch umsah. Es war eigenartig. Ich sah nichts, hörte kein Geräusch, und doch war ich sicher, daß jemand mich beobachtete. Ängstlich und mutig zugleich, rief ich laut: »Wer ist da?«
    Nichts rührte sich. Nur der Wind strich seufzend durch die Wipfel der Bäume.
    »Ich weiß, daß jemand hier ist, und ich mag es nicht, wenn man mich heimlich beobachtet.«
    Dennoch war ich überrascht, als sich in den Bäumen in der Nähe tatsächlich etwas bewegte. Stiefel traten in welkes Laub, Arme teilten kahle Äste auseinander.
    »Wer ist da?« rief ich wieder. »Ich will wissen, wer da ist! Schluß mit dem Versteckspiel.«
    Aber niemand antwortete mir. Die Schritte kamen eindeutig näher. Mein Beobachter blieb ohne Identität, verborgen zwischen den Bäumen, aber ohne sich die Mühe zu machen, seine Anwesenheit zu verheimlichen. Mir wurde unheimlich. Was sollte das? Warum sagte der Eindringling nichts? Aber trotz meiner Furcht wich ich nicht von der Stelle. Ich war entschlossen, keine Furcht zu zeigen.
    Ganz in meiner Nähe hörten die Schritte auf. Ich stand stocksteif, mit angehaltenem Atem, und das Herz klopfte mir bis zum Hals. »Hallo«, sagte es plötzlich hinter mir.
    Ich wirbelte herum. »Colin! Das ist überhaupt nicht komisch.«
    »Hat das denn jemand behauptet?« Ein ironisches Lächeln begleitete sein Achselzucken.
    »Warum hast du dich

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