Lockruf der Vergangenheit
Abend würde es wohl ein richtiges Gewitter geben. Ich wußte, daß ich mich beeilen mußte, wenn ich genügend Zeit im Wäldchen haben wollte.
Mit beiden Händen Umhang und Röcke festhaltend, lief ich um das Haus zu dem Weg, der zu den Ställen führte. Von hier aus konnte ich die weite Grünfläche sehen, die sich den Hang hinabzog und am Fuß des Hügels vor einem dichten Wald endete. Die Bäume sahen grau und spröde aus, wie sie im Sturm gegeneinander schlugen. Immer dichter ballten sich die finsteren Wolken zusammen, wuchsen zu einem bedrohlichen schwarzen Meer. Ihre Schatten bedeckten die Grünfläche jetzt ganz, ließen nur hier und dort einige Sonnenstrahlen durchscheinen. Mein Ausflug würde wohl von kurzer Dauer sein.
Ich folgte dem Weg bis zu seinem Ende auf dem Kamm des Hügels und blieb einen Moment stehen, um den sanften Hang hinunterzublicken. Ich sah, etwa aus der Mitte der Lichtung emporragend, das Wäldchen, eine Gruppe dicht stehender, kahler Bäume.
Noch einen Moment zögerte ich, sah furchtsam hinunter und wußte doch, daß ich den Kampf um meine Vergangenheit aufnehmen mußte. Die Akazien drängten sich im Sturm zusammen, als wollten sie um jeden Preis das schreckliche Geheimnis hüten, das sie all die Jahre hindurch bewahrt hatten, und das ich ihnen jetzt entreißen wollte. Ja, ich würde kämpfen, wenn es sein mußte; wenn die Erinnerungen nicht gleich zurückkehren wollten, würde ich tagtäglich so lange ins Wäldchen hinuntergehen, bis jedes Stückchen meiner Vergangenheit wieder mir gehörte, ganz gleich, wie schrecklich sie sein mochte.
Hier stand ich nun, als wäre ich wieder fünf Jahre alt. Ich schaute hinunter in das Wäldchen, wo ich meinen Vater und meinen Bruder hatte sterben sehen. Die anderen waren alle im Haus, meine Mutter im Garten an der Arbeit. Ich war ein Kind, unternehmungslustig und neugierig, ich wollte sehen, was Vater und Thomas machten.
Ich ging los. War es kalt gewesen an jenem Tag? Hatten graue Wolken den Himmel bedeckt? Hatte ein Gewitter gedroht? Oder war ich im hellen Sonnenlicht hinuntergetollt?
Je näher ich dem Wäldchen kam, desto stärker wurde die innere Spannung. Noch zeigte sich nicht einmal das Fünkchen einer Erinnerung, das mich hätte wissen lassen, daß ich hier schon einmal gewesen war. Der Wind schnitt mir ins Gesicht. Das Gras unter meinen Füßen knisterte. Ich war eine Fremde an einem fremden Ort. Wenn Erinnerungen kommen sollten, so würden sie an jenem Ort im Wäldchen kommen. Um mich an den Vorfall selbst nicht erinnern zu müssen, hatte mein Gehirn eine Barriere aufgebaut, die auch alle anderen Erinnerungen zurückhielt – die guten, wie die bösen. Um sie zurückzuerobern, mußte ich die Barriere einreißen. Und um das tun zu können, mußte ich an den Ort des Ereignisses zurückkehren.
Ich spürte, wie ich Angst bekam. Was würde mir die Erinnerung zeigen? Welches Entsetzen, welchen Schrecken würde ich noch einmal durchleben müssen, um mein Ziel zu erreichen? Während ich mich mit zögernden Schritten dem Wäldchen näherte, sagte ich mir, daß ich ja jederzeit umkehren, nach London zurückreisen und alles vergessen konnte, was ich hier vorgefunden hatte. Zugleich aber wußte ich, daß das nicht möglich war. Ich hatte mich auf einen Weg begeben, auf dem es keine Umkehr gab. Mein Vater war unschuldig – dessen war ich sicher; und ich sah es als meine Pflicht an, ihm und mir und vor allem meiner Mutter, die um seinetwillen zwanzig Jahre lang gelitten hatte, das zu beweisen. Plötzlich stand ich am Wäldchen. Ich drehte mich um und schaute den Hügel hinauf. Oben thronte das mächtige alte Haus, und seine dunklen Fenster blickten zu mir herunter. Ein Gefühl wie im Traum überkam mich. War ich vor wenigen Tagen wirklich noch in London gewesen, ohne von den Morden in diesem kleinen Hain, ohne von dem lächerlichen Fluch, mit denen sie sich so bequem erklären ließen, etwas zu wissen? Hatte es wirklich einmal eine Zeit gegeben, in der die Namen Colin, Anna, Henry und Theo mir nichts gesagt hatten? Ich mußte mich stellen. Kein Zaudern mehr. Ich war zu einem bestimmten Zweck hierher gekommen, und es lag mir nicht, die Dinge aufzuschieben. Ich sah in das Wäldchen hinein, doch ich konnte nichts erkennen; es war unmöglich zur anderen Seite hindurchzusehen. Ich machte einen Moment die Augen zu und versuchte, das Bild von vier Kindern heraufzubeschwören, die fröhlich in den Ruinen im Herzen des Wäldchens spielten. Aber ich konnte
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