Lockruf des Blutes
richten? Oder an unsere Schüler? Wir haben für heute Vormittag eine Schulversammlung anberaumt.«
Wir erheben uns von unseren Stühlen. Williams denkt einen Moment lang über die Frage nach. »Ich würde gern mit den Schülern sprechen, wenn Sie nichts dagegen haben. Vielleicht kann eine ihrer Freundinnen uns mehr über Barbaras letzten Tag sagen.«
Mom wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Die Schulversammlung ist um neun. Wir haben den Schultag für heute stark verkürzt, die Schüler müssen nur bis Mittags hier sein. Das haben wir so eingerichtet, damit sie nachmittags mit einem Ihrer Detectives oder einem psychologischen Berater sprechen können, wenn sie möchten.«
Sie begleitet die Polizisten hinaus und schließt die Tür, bevor sie sich wieder mir zuwendet. »Ich hätte ihm von Trish und Frey erzählen müssen.«
Ich weiß, warum sie sich solche Sorgen macht. Ich weiß auch, warum sie nichts gesagt hat. Eine Entscheidung, mit der ich völlig einverstanden bin. »Du hast nichts gesagt, weil du Trish nicht da hineinziehen wolltest, solange wir nicht sicher wissen, was passiert ist. Du beschützt sie. Das ist in Ordnung, Mom.«
»Aber was, wenn sie in Gefahr ist? Himmel, Anna. Wenn ihr irgendetwas zustößt, und ich hätte es verhindern können … «
Ich lege ihr einen Arm um die Schultern. »Carolyn ist ihre Mutter, und sie hat uns gebeten, nichts zu sagen. Die Polizei arbeitet an dem Mordfall. Die sind dafür ausgebildet, solche Verbrechen aufzuklären. Falls Frey etwas damit zu tun hat, werden sie das herausfinden. Bis dahin werde ich sehen, was ich tun kann. Ich lasse Frey von David durchchecken, und ich werde ihm heute folgen, wenn er das Schulgelände verlässt. Vergiss nicht, Trish ist ein Teenager, der Probleme hat. Dass sie weggelaufen ist, hat vielleicht gar nichts mit Barbara zu tun.«
Es klopft diskret an der Tür. Moms Sekretärin ist wieder da, und sie deutet auf ihre Armbanduhr. Mom nimmt die Geste mit einem Nicken zur Kenntnis und zupft den Saum ihres Kostüms zurecht.
»Kommst du mit zur Versammlung?«, fragt sie.
Ich nicke. »Ich bleibe ganz hinten. Aber bevor wir gehen, würdest du mir bitte Freys Akte geben?«
Mom sieht ein paar Unterlagen auf ihrem Schreibtisch durch und zieht eine dicke Aktenmappe aus dem Stapel. »Die habe ich erst heute Morgen herausgesucht.« Als wäre ihr das spontan eingefallen, greift sie noch in das Bücherregal hinter ihrem Schreibtisch und holt das neueste einer ganzen Reihe von Jahrbüchern hervor, die das gesamte unterste Regalbrett einnehmen. Sie schlägt den Teil mit den Lehrern auf und deutet auf eine Seite. »Hier ist ein Foto von Daniel Frey.« Sie blickt auf und begegnet dem Blick ihrer Sekretärin, die immer noch wartend in der Tür steht. »Ich muss jetzt los.«
Ihre Anspannung ist beinahe greifbar. Ich bemühe mich, ihr aufmunternd zuzulächeln. Sie drückt meinen Arm zum Dank für den netten Versuch und lässt mich allein. Das aufgeschlagene Buch mit dem Foto liegt auf dem Schreibtisch.
Es ist eine Studioaufnahme, das Porträtfoto eines Mannes Anfang vierzig mit kurzem, grau meliertem Haar und einem Lächeln, das dank voller Lippen und gerader weißer Zähne geradezu perfekt wirkt. Das Gesicht strahlt innere Stärke und eine gewisse, etwas aufgesetzt erscheinende Sinnlichkeit aus. Daniel Frey vermittelt Humor, Sensibilität, Intelligenz und Sexualität. Eine Mischung, die Mädchen im Teenageralter unwiderstehlich finden müssen.
Verdammt, Frauen jeden Alters und jeder Spezies finden das unwiderstehlich. Diese Ausstrahlung ist so stark, dass ich unwillkürlich mit den Fingern über die Seite streiche.
Ich knalle das Buch zu und stelle es zurück ins Regal. Die Akte werde ich mir später vornehmen. Jetzt will ich erst mal sehen, ob der Kerl in natura genauso umwerfend ist.
Die Lehrerversammlung findet im Theatersaal der Schule statt. Mom steht auf der Bühne, und ihr glattes, helles Haar schimmert im Scheinwerferlicht. Gefasst, sachlich, aber betroffen informiert sie ihr Kollegium über die Ereignisse.
Wieder einmal fällt mir auf, wie schön sie ist und wie stolz ich darauf bin, ihre Tochter zu sein. Noch vor zwei Monaten war ich sauer auf meine Eltern, weil sie meine Entscheidung, was ich mit meinem Leben anfangen will, nicht akzeptieren konnten. Doch nun ist die Zeit, die uns noch bleibt, begrenzt, und meine Gefühle ihnen gegenüber haben sich geändert.
Ich schüttele diese melancholischen Gedanken ab und lasse den Blick durch
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