Lockruf des Blutes
geschickt. Es hat mir gefallen.
Wir gehen nach vorn, zwischen den Tischen der Schüler hindurch, jeweils acht hintereinander, von Freys kleinem Podium vor der Tafel bis ganz nach hinten aufgereiht. Ich zähle achtundvierzig Plätze.
Ungewöhnlich große Klasse, oder?
Er zuckt wieder mit den Schultern. Anscheinend gefällt den Kindern mein Unterricht. Abgesehen davon herrscht ständig Lehrermangel. Gute Lehrer verlassen den Schuldienst, um andere Karrieren einzuschlagen.
Diese letzten Worte unterstreicht er mit einem vielsagenden Blick zurück zu mir. Hat er die Tatsache, dass ich früher Lehrerin war, von meiner Mutter oder aus meinem Kopf aufgeschnappt?
Frey öffnet eine Tür neben der Tafel und bittet mich in ein winziges Büro. Es ist nicht viel größer als eine Besenkammer und mit einem Schreibtisch, einem Stuhl und einem niedrigen Bücherschrank eingerichtet. Er bietet mir den Stuhl an, schlüpft aus seinem Mantel, legt ihn auf den Bücherschrank und setzt sich dann auf die Schreibtischkante.Die Tür kann er nicht schließen, weil seine Füße im Weg sind.
Aus irgendeinem Grund beruhigt es mich, dass er die Tür nicht zumachen kann.
»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagt er.
»Wenn du mir sagen würdest, was du bist, hätte ich vielleicht keine mehr.«
Er neigt den Kopf zur Seite, sieht mich an, und seine Augen weiten sich vor Überraschung. Du weißt es wirklich nicht? Wie lange bist du schon ein Vampir?
Das ist nicht das erste Mal, dass mir jemand in diesem Tonfall dieselbe Frage stellt. Schon beim ersten Mal hat mir das nicht gefallen. Ich stoße genervt die Luft aus. Offensichtlich noch nicht lange genug. Wirst du meine Frage jetzt beantworten? Was zum Teufel bist du?
Er steht auf, und als er die Hand nach mir ausstreckt, springe ich auf. Vor Schreck gebe ich ein reflexhaftes Knurren von mir, das tief aus meinem Bauch kommt, und balle die Hände zu Fäusten. Das lässt ihn innehalten. Er hält die Hand mit der Handfläche nach oben, ein Friedensangebot. Langsam deutet er auf den Schreibtisch, und mir wird klar, dass er nach etwas auf dem Tisch greifen wollte, nicht nach mir.
Ich bin sowohl erleichtert als auch verlegen. Okay.
Er hebt einen kleinen runden Stein auf, rot wie Blut, und hält ihn in der Hand. Er schließt die Augen, murmelt etwas in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Zunächst bin ich so damit beschäftigt, sein Gesicht zu beobachten, dass es mir beinahe entgeht. Dann sehe ich es. Seine Hand. Die Nägel verlängern sich zu Klauen, die Handfläche wird zu einem ledrigen Pfotenballen, und mitternachtsschwarzes Fell umhüllt die – Tatze.
Ich drücke mich an die Wand und kann den Blick nicht mehr von seiner Hand losreißen, die nun aussieht wie die Tatze eines Panthers. Was bist du?
Daniel Frey bewegt sich, und mein Blick fährt unwillkürlich hoch zu seinem Gesicht. Er öffnet die Augen, legt den Stein wieder auf den Schreibtisch und wartet ab. Gleich darauf ist die Verwandlung rückgängig gemacht. Er krümmt die Finger seiner ganz normalen, menschlichen Hand, bevor er antwortet: Ich bin ein Gestaltwandler.
Gestaltwandler? Wie viel von deiner Gestalt kannst du denn verwandeln? Nur die Hände?
Er lacht. Natürlich nicht. Ich hielt es nicht für klug, dir eine vollständige Demonstration zu liefern, weil ich in ein paar Minuten meine Schüler erwarte. Ein Panther auf dem Schulgelände wäre schwer zu erklären. Es überrascht mich, dass du mich nicht sofort als Übernatürlichen erkannt hast.
So viele Fragen schießen mir durch den Kopf, dass ich nicht weiß, welche ich zuerst stellen soll. Kannst du dich auch in etwas anderes verwandeln? Wenn du diese Gestalt angenommen hast, musst du dann den Stein berühren, um dich zurückzuverwandeln? Brauchst du keinen Vollmond, um Tiergestalt anzunehmen?
Die letzte Frage greift er zuerst auf. Den Mond? Du denkst an Werwesen. Das ist eine völlig andere Spezies. Und nein, ich kann mich in kein anderes Tier verwandeln. Den Stein brauche ich im Grunde auch nicht. Damit geht es nur schneller.
Ich weiß, dass mich das nicht überraschen sollte. Gestaltwandler. Werwölfe. Vampire. Was gibt es sonst noch für Wesen, die ich erst noch kennenlernen muss?
Frey antwortet, obwohl die Frage rhetorisch war.
Wollen mal sehen. So spontan kann ich dir einige nennen. Geister zum Beispiel. Engel. Dämonen. Drachen.
Drachen?
Es gibt nicht mehr viele. Aber ein paar leben noch. Meist in abgelegenen Dschungelgebieten. Und auf vergessenen
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