Lockruf des Blutes
fester zu. »Du wirst nicht erwähnen, dass du mich hier gesehen hast. Ja, du wirst überhaupt nie wieder hierherkommen. Nie wieder. Wenn doch, finde ich dich. Das ist kein Problem, glaub mir. Hast du das verstanden?«
Schon erstaunlich, wie klar auf einmal selbst der dämlichste Mensch denken kann, wenn man ihn ein bisschen würgt. Er blinzelt hektisch mit den Lidern. Im Moment kann er nicht mehr tun, denn ich habe ihm die Luft völlig abgedrückt.
Ich lasse ihn los, und er kippt vornüber auf die Knie, hält sich mit beiden Händen den Hals und hustet.
»Das fasse ich als ›Ja‹ auf. Und jetzt verzieh dich.«
Er schleicht die Treppe hinunter. Ich schaue ihm nach, aber ohne jedes Gefühl der Befriedigung. Ich kenne diese Sorte. Er wird nach Hause gehen, seine Unterwäsche wechseln und Rachepläne schmieden. Aber vielleicht geht er ja nach Beso de la Muerte, um sich dort zu rächen. Ich werde Culebra wissen lassen, was passiert ist. Ich will nicht, dass dieser dämliche Fleischkloß seine Wut an irgendeinem nichtsahnenden Vampir auslässt. Culebra wird schon wissen, wie man mit so einem fertig wird.
Vom Außengang aus sehe ich zu, wie der Junge mit quietschenden Reifen in dem VW abdüst. Ich hätte nicht gedacht, dass das noch in der Karre steckt. Ich lasse ein, zwei Minuten verstreichen, um sicher zu sein, dass er nicht zurückkommt. Dann klopfe ich an Carolyns Tür. Ich höre ein Rascheln von drinnen, ein Murmeln, das sich ungefähr anhört wie »Verdammt, was will der Kerl jetzt schon wieder«, und die Tür geht auf.
Wenn ich schon bei unserer ersten Begegnung fand, dass Carolyn Delaney nicht gut aussah, dann sieht sie jetzt hundert Mal schlimmer aus. Sie trägt einen uralten Morgenmantel, so fleckig und abgerissen, dass ich nicht mal sicher bin, ob die Farbe dreckiges Braun oder verwaschenes Grau sein soll. Der Morgenmantel klafft über ihren Brüsten in einem spitzenbesetzten BH auf, der aussieht, als hätte sie ihn schon seit dem College. Aber jetzt ist das viel zu viel Busen für so wenig BH, und die Wirkung ist nicht gerade hübsch. Ihr Haar ist ungewaschen und ungekämmt, ihr Gesicht fleckig. Sie riecht nach Sex, Moschus und Tabak.
Der Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht, als sie mich erkennt, spiegelt zweifellos meine eigene Miene bei ihrem Anblick.
Sie zieht den Morgenmantel zu, fährt sich mit der Hand durchs Haar und stellt sich so in die Tür, dass ich nicht an ihr vorbeischauen kann. »Ich habe nicht erwartet, Sie hier zu sehen«, sagt sie. »Wie haben Sie mich gefunden?«
»Sie haben uns Ihre Adresse gegeben. Gestern Abend. Wissen Sie nicht mehr?«
»Ich habe Ihnen auch meine Telefonnummer gegeben«, grummelt sie. »Ich meine, Sie hätten doch anrufen können, wenn Sie Neuigkeiten haben.«
Ihre Art macht mich allmählich wütend. »Carolyn, werden Sie mich jetzt reinlassen oder nicht?«
Schon während ich das sage, gehe ich energisch auf sie zu, und ihr bleibt gar nichts anderes übrig, als einen Schritt zurückzutreten und mich widerstrebend hereinzuwinken. Vorsichtig trete ich ein. Die Vorstellung, sich mit dieser Frau in einem geschlossenen Raum aufzuhalten, ist etwa so angenehm wie die, mit dem Halslosen zu schlafen. Aber ich bin schließlich aus einem wichtigen Grund hier – Trish. Also zwinge ich mich, meinen Ekel herunterzuschlucken.
Als wäre Carolyn endlich aufgegangen, dass ich vielleicht wirklich aus einem wichtigen Grund hier bin, wie etwa Neuigkeiten über ihre Tochter, und dass sie deshalb ein wenig mütterliche Besorgnis demonstrieren sollte, fragt sie: »Haben Sie eine Spur von Trish?«
Ich blicke mich in der Wohnung um und frage mich, wie eine Krankenschwester in solchem Dreck und Elend leben kann. Auf jeder denkbaren waagerechten Fläche stapelt sich schmutziges Geschirr, sogar auf dem Sofa und den klapprigen Stühlen, die im Wohnzimmer herumstehen. Leere Bier- und Coladosen liegen auf dem Boden. Ein Aschenbecher, der in einem früheren Leben mal ein Marmeladeglas war, ist so voll mit Kippen und Asche, dass der Inhalt auf den mit Fettflecken verzierten Pizzakarton darunter überquillt. Ich frage mich, wie ihr Arbeitsbereich im Krankenhaus aussehen mag, und wie oft sie sich wohl die Hände wäscht.
Als ich den Blick wieder auf Carolyn richte, gebe ich mir keine Mühe, meinen Ekel zu verbergen. »Hier wohnen Sie mit Trish?« Beinahe hätte ich hinzugefügt: »Kein Wunder, dass sie weggelaufen ist«, aber ich verkneife es mir, obwohl ich nichts lieber
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