Lockruf des Blutes
warum.«
»Da gibt es nichts zu finden«, sagt sie mit scharfer Stimme. »Ich habe schon nachgeschaut.«
»Schön, ich will es mir aber noch mal ansehen.« Ich gebe ihr keine Gelegenheit mehr, mir zu widersprechen, sondern wende mich dem kurzen Flur zu, der vom Wohnzimmer abgeht, weil ich vermute, dass dort die Schlafzimmer liegen.
Sie ist sofort bei mir. Ich lege die Hand auf den Knauf der ersten Tür, und sie hält mich zurück. »Das ist mein Zimmer«, fährt sie mich an.
Ich sage ihr nicht, wie erleichtert ich darüber bin, dass ich den Alptraum, den ich hinter dieser Tür vermute, nicht sehen muss. Stattdessen gehe ich zur nächsten weiter. Der Türknauf ist entfernt worden, nur ein großes, kreisrundes Loch ist übrig. »Was ist denn hier passiert?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Trish hat ihre Tür immer abgeschlossen. Als sie verschwunden ist, musste ich doch irgendwie da reinkommen. Mir ist nichts anderes eingefallen, wie ich das anstellen könnte.«
Ich öffne die Tür. Auf der anderen Seite sind zwei Riegel, die nur von innen vorgeschoben werden können. Trish hielt es für nötig, ihre Schlafzimmertür extra zu sichern? Ich weiß, wie wichtig Teenagern ihre Privatsphäre ist, aber die meisten schrauben nicht noch Extrariegel an die Tür. Ich frage mich, wen sie so unbedingt von sich fernhalten wollte.
Ich schiebe die Tür auf und trete ein. Carolyn folgt mir nicht, und die Röte steigt ihr in die Wangen. Als ich mich umsehe, verstehe ich, warum. Sie sollte sich wirklich schämen. Dieses Zimmer scheint zu einer völlig anderen Wohnung zu gehören. Das Bett ist ordentlich gemacht, die Möbel frei von schmutzigem Geschirr und Staub. Schulbücher sind säuberlich auf dem Schreibtisch aufgestapelt. Es gibt eine Pinnwand mit ein paar Fotos, aber nur von Trish und anderen jungen Leuten, vermutlich Schulfreundinnen, keine Familienfotos. Die Sachen in den Schubladen ihrer Kommode sind ordentlich gefaltet. Im Kleiderschrank finde ich am Boden aufgereihte Schuhe vor, darüber saubere, gebügelte Kleidung, aufgehängt und sortiert: Blusen, Röcke, Hosen, Jacken.
Kaum das Zimmer einer drogensüchtigen Jugendlichen. Ihre Garderobe ist minimal, und irgendwie macht mich das trauriger als alles andere, was ich bisher gesehen habe.
Aber ich finde nichts, was mir einen Hinweis darauf geben könnte, wo sie sich möglicherweise aufhält. Kein Tagebuch. Keine Notizbücher mit hingekritzelten Adressen.
Ich schließe respektvoll die Tür hinter mir und wende mich wieder Carolyn zu.
»Als Trish die letzten beiden Male weggelaufen ist, wo war sie da?«
Carolyns Schultern sacken herab. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Sie machen wohl Witze.«
Sie runzelt die Stirn und schürzt beleidigt die Lippen. »Wo sie letztes Mal war, ist egal. Sie ist nicht da. Ich habe nachgesehen.«
»Wo ist sie nicht, Carolyn? Ich will eine Antwort.«
Sie verschränkt die Arme, eine defensive Geste. »Sie war bei meinen Eltern, okay? Aber jetzt ist sie nicht dort.«
Ich beiße unwillkürlich die Zähne zusammen. »Hatten Sie gestern Abend nicht behauptet, Ihre Eltern wollten mit Ihnen und Trish nichts zu tun haben?« Doch im selben Moment begreife ich die Wahrheit und füge hinzu: »Es ist nicht Trish, mit der sie nichts zu tun haben wollen, richtig? Es geht um Sie.«
Carolyn funkelt mich vorwurfsvoll an. »Was wollen Sie denn hören? Dass meine Mom und mein Stiefvater enttäuscht von mir sind? Dass mein Leben nicht so gelaufen ist, wie sie und ich uns das erhofft hatten? Na schön. Ich habe es zugegeben. Also, was werden Sie jetzt unternehmen, um Trish zu finden?«
»Sind Sie ganz sicher, dass sie nicht bei Ihren Eltern ist?«
Nun wird sie wütend. »Ja. Ich habe sie angerufen. Jetzt haben sie noch etwas, woran sie mir die Schuld geben können. Meine Mutter ist jetzt schon auf dem Weg hierher, um dafür zu sorgen, dass ich nicht noch mehr Mist baue.«
»Woher kommt sie denn?«
Bitterkeit spiegelt sich auf ihrem Gesicht und in ihrer Stimme. »Sie wohnt mit ihrem reichen Mann zusammen«, erwidert sie. »In Boston.«
»Boston? Wie ist Trish denn nach Boston gekommen?«
Sie schnaubt ungeduldig. »Da wohnt sie jetzt mit ihrem reichen Mann. Sie haben früher in L. A. gewohnt. Vor zwei Monaten sind sie nach Boston gezogen.«
»Warum nach Boston?«
»Was geht Sie das an?«, blafft sie. »Sie wollten wissen, ob Trish bei ihnen ist. Ist sie nicht.«
»Wussten Sie, dass Daniel Frey aus Boston hierhergezogen ist? Und die Francos
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