Lockruf des Blutes
Fragen beantworten und mir meine Arbeit ein bisschen leichter machen.
Seine Hand liegt schon am Türgriff, doch nun zögert er und dreht sich halb zu mir um. Du hast Fragen? Ist das alles? Sein Lächeln ist bitter. Sicher. Warum nicht? Dann kannst du bei der Gelegenheit gleich meine Wohnung durchsuchen und dich davon überzeugen, dass ich Trish nicht im Besenschrank gefangen halte.
Der Sarkasmus kommt sogar in der telepathischen Kommunikation zum Tragen. Doch ihm fällt sofort auf, dass es nicht angebracht ist, sich über Trishs Verschwinden lustig zu machen. Entschuldigung. Ich werde tun, was ich kann, um dir bei der Suche nach Trish zu helfen. Sie ist ein nettes Mädchen, und ich will nicht, dass ihr etwas passiert.
Ich nehme meine Handtasche und folge ihm. Ich glaube ihm ja, dass er sich wünscht, ihr möge nichts passieren. Aber deshalb bin ich noch lange nicht davon überzeugt, dass er mit ihrem Verschwinden nichts zu tun hat.
Oder dass ich ihm vertrauen kann.
Kapitel 12
F reys Wohnung ist wie sein Unterrichtsraum – kahl und eintönig. Wir gehen durch einen Vorraum, in dem kein einziges Möbelstück steht, obwohl Platz genug für mehrere wäre, und betreten das Wohnzimmer. Die Wände, die Möbel und der Teppich, alles ein Echo derselben Farbe – Grau, ein heller Ton, so flüchtig wie Rauch. Keine Kunst an den Wänden. Keine Bücher mit farbenfrohen Umschlägen. Nichts in diesem Raum durchbricht die Monotonie, bis auf Regenbogen aus Licht, von einem Dutzend kleiner Kugeln an einer Balustrade auf der Terrasse draußen in den Raum reflektiert. Die Terrasse liegt nach Westen, und ich kann mir vorstellen, dass diese bunte Lightshow ihren Tanz von morgens bis abends aufführt.
Hübsch, nicht? Freys Tonfall klingt wie ein Schnurren. Sobald ich diese Wohnung betreten hatte, wusste ich, sie ist genau das, was ich will. Den ganzen Tag lang Sonne.
Er hat das Gesicht dem Fenster zugewandt und leicht angehoben, die Augen sind geschlossen.
In diesem Moment sehe ich das Katzenhafte in seinem Wesen so deutlich, als hätte er die Verwandlung, die er in seinem Klassenzimmer angedeutet hat, vollständig durchgezogen. Ich frage mich, ob er sich vor diesem Fenster zusammenrollt und … Rasch verdränge ich diesen verstörenden Gedanken, bevor das Bild allzu deutlich wird und Frey es mitbekommt.
Was weiß ich denn sonst noch über Katzen? War da nicht etwas mit ihrer Farbwahrnehmung – genauer gesagt, dass sie keine Farben wahrnehmen können? Würde das die Eintönigkeit seiner Wohnung wie seines Klassenzimmers erklären, und noch mehr.
Fährst du deshalb nicht Auto? Weil du keine Farben unterscheiden kannst?
Er ist meinem Gedankengang gefolgt, rollt nun genüsslich die Schultern, hält das Gesicht weiterhin der Sonne entgegen und antwortet: Teilweise. Man kann nicht sagen, dass ich gar keine Farben unterscheiden könnte, obwohl ich feine Unterschiede nicht wahrnehme. Aber ich will gar nicht fahren. Die Highways hier sind ständig verstopft, und die Leute fahren wie die Wahnsinnigen. Ich bezahle jemanden dafür, dass er mich zur Schule und zurück fährt, und da ich direkt gegenüber von einem großen Einkaufszentrum wohne, brauche ich ansonsten selten ein Transportmittel.
Er löst sich von der Sonne und wendet sich mir zu. Möchtest du den Rest meiner Wohnung sehen?
Ich nicke, und er bedeutet mir, ihm zu folgen. Er führt mich in einen Flur, von dem links und rechts je eine geschlossene Tür abgeht. Vor der linken bleibt er stehen, öffnet sie und bittet mich mit einer stummen Geste herein.
Es ist eine Bibliothek, schlicht eingerichtet, mit Regalen vom Boden bis zur Decke, die drei Wände einnehmen, zwei bequemen Sesseln mit Leselampen dahinter und einem kleinen Tisch dazwischen. Dieser Raum spiegelt den Lehrer in Frey wider. In den Regalen reihen sich die Klassiker der Literatur in abgegriffenen Einbänden, manche Buchrücken sind rissig, die Schrift abgeblättert. Ein feiner Geruch liegt in der Luft, wie man ihn aus antiquarischen Buchhandlungen kennt – Staub, altes Papier, der Duft von gealtertem Leder.
Ich streiche mit dem Zeigefinger über die Buchrücken auf dem nächsten erreichbaren Brett. Teure Sammlung für einen Highschool-Lehrer. Sind das alles Erstausgaben?
Er lächelt, antwortet aber nicht.
Anscheinend wartet er auf irgendeine Reaktion von mir. Ich quittiere sein Schweigen mit einem Achselzucken und greife nach einem Buch. Eine Ausgabe von Rebecca . Ich schlage die erste Seite auf und lese:
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