Lockruf des Blutes
»Habe ich dich geweckt?«, fragt sie besorgt.
»Nein. Ich habe mich nur schon hingelegt – ein bisschen ausruhen. Wie war euer Essen mit Carolyn?«
»Sie ist nicht gekommen.« Moms Stimme drückt eine Mischung aus Gereiztheit und Sorge aus. »Wir haben versucht, sie anzurufen, aber sie hat nicht abgenommen. Warum sollte sie uns einfach versetzen? Dieses Abendessen war schließlich ihre Idee.«
Nach allem, was ich heute über Carolyn erfahren habe, überrascht mich nichts mehr. Meiner Mutter sage ich: »Vielleicht musste sie zu einem Notfall ins Krankenhaus und hatte keine Zeit mehr, euch zu benachrichtigen. Ich sehe sie morgen. Dann frage ich sie, was passiert ist.«
»Ich habe deine Nachricht von heute Nachmittag bekommen«, fährt Mom fort. »Deshalb hatte ich gar nicht erwartet, so bald von ihr zu hören. Ihre Einladung zum Essen war eine echte Überraschung.« Kurze Pause. »Gibt es etwas Neues von Trish?«
Das gehört zu den Dingen, die ich am meisten verabscheue – Menschen, die ich liebe, belügen zu müssen. Es wird nicht leichter, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das je ändern wird. Aber ich kann noch niemandem erzählen, was ich herausgefunden habe, schon gar nicht meinen Eltern. »Ich rechne damit, dass ich bald etwas erfahren werde, Mom. Bitte mach dir keine allzu großen Sorgen. Wie kommt Dad denn mit all dem zurecht?«
Sie zieht scharf den Atem ein. »Nicht gut. Er benimmt sich, als würde er Carolyn nicht glauben, dass Trish tatsächlich von Steve ist. Aber ich sehe ihm an, dass er eine Todesangst um das Mädchen hat.« Da fällt mir etwas ein. »Mom, hat Carolyn Trishs Bürste bei euch gelassen?«
Wieder eine Pause. Im Geiste sehe ich meine Mutter vor mir, die ins Wohnzimmer geht und sich suchend umschaut. »Ja«, sagt sie schließlich. »Hier ist sie.«
»Ich hole sie morgen ab. Ich glaube, wir sollten diesen Gentest machen lassen. Du hast doch einen von Steves Milchzähnen aufgehoben, oder? Ich erinnere mich, dass ich ihn irgendwo gesehen habe.«
Ihr Lachen ist kurz und traurig. »Ich habe auch einen von deinen. Den ersten, der dir ausgefallen ist.«
Ich lasse einen Augenblick verstreichen, bevor ich erwidere: »Würdest du mir Steves Zahn heraussuchen? Ich glaube, davon können sie auch eine DNS-Probe nehmen.«
Mom braucht lange für ihre Antwort. Aber schließlich sagt sie mit leiser, fester Stimme: »Ich lege dir die Sachen auf den Esszimmertisch, falls wir nicht da sein sollten, wenn du kommst. Morgen wird in der Schule wieder ganz normal unterrichtet, und ich fürchte, das wird ein langer Tag.«
Ich verspreche, mich bei ihr zu melden, dann legen wir auf. Max schlüpft neben mir ins Bett, und wir kuscheln uns unter der Decke aneinander. Er schläft zuerst ein, und ich winde mich aus seinen Armen und starre an die Decke, während ich darauf warte, dass der Schlaf meine schreckliche Sorge um ein Mädchen dämpft, das ich erst seit heute kenne, nicht einmal einen ganzen Tag.
Kapitel 20
MITTWOCH
I ch wache sehr früh auf, als Max aufsteht, weil sein Handy zirpt. Ich treibe zurück in den Halbschlaf und bekomme mit, dass Max ins Bad geht, duscht und sich anzieht. Dann beugt er sich über mich und küsst mich auf die Stirn.
»Ich muss gehen«, sagt er. »Ich habe einen Anruf bekommen. Es gibt irgendwelche Probleme mit Martinez’ Auslieferungsgesuch. Sie wollen, dass ich nach Washington komme.«
Ich rapple mich zum Sitzen hoch. »Ist alles in Ordnung?«
Sein Blick richtet sich auf alles Mögliche im Raum, nur nicht auf mein Gesicht.
»Max, ist alles in Ordnung?«
Seine Lippen verziehen sich, und ich vermute, er wollte eigentlich lächeln. Doch die Grimasse dringt nicht bis zu seinen Augen vor, und seine Stirn bleibt gerunzelt. »Natürlich ist alles in Ordnung«, sagt er eine Spur zu fröhlich. »Was sollte denn sein?«
»Ich hoffe, bei der Arbeit lügst du besser.«
Er lächelt – diesmal ist es echt –, und seine steifen Schultern lockern sich ein wenig. Er setzt sich auf die Bettkante und streicht mir eine kurze Strähne hinters Ohr. »Das Problem ist Martinez. Sie haben ihn verloren.«
»Verloren? Wie kann man denn einen der größten Drogenbosse von Mexiko verlieren? Ich dachte, er macht mit seiner Familie Urlaub in Kolumbien? Haben sie ihn denn nicht überwachen lassen?«
Sein Schulterzucken kommt nur halb zustande, da gleitet die Hand schon wieder in seine Jackentasche. Das Handy. Er hört einen Moment lang zu, klappt dann das Handy zu, ohne ein
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