Lockruf des Blutes
ans Telefon.
Ich überlege, ob ich mich mal bei meiner Mutter melden sollte, als das Handy klingelt. Ich werfe einen Blick auf die Nummer des Anrufers.
»Gutes Timing, Mom. Ich wollte dich gerade anrufen.«
»Ich habe den ganzen Nachmittag lang versucht, dich zu erreichen. Dein Telefon war ständig besetzt. Die Polizei war hier, Anna.«
Ihr Tonfall ist vorwurfsvoll, ihre Aussprache knapp, als müsse sie sich bei jedem Wort beherrschen, um sich ihre Wut nicht anmerken zu lassen.
Ich versuche, ihre Feindseligkeit durch aufrichtige Neugier zu besänftigen. »Geht es um Barbara?«
»Und um Carolyn. Warum hast du mir nicht gesagt, dass Trishs Mutter ermordet wurde?«
Genervt schließe ich die Augen. »Das hätte ich tun sollen, Mom, du hast recht. Es tut mir leid.«
»Die Polizei glaubt, du hättest etwas damit zu tun. Du und Daniel Frey. Und ein Lehrer hat mir gesagt, er hätte gesehen, wie du und Frey heute Nachmittag zusammen die Schule verlassen habt. Ist das wahr?«
Irgendetwas am missbilligenden Tonfall meiner Mutter macht es mir unmöglich, sie anzulügen – zumindest in dieser Sache. »Ja. Ich habe Frey heute Nachmittag abgeholt.«
Sie zieht scharf den Atem ein. »Weiß er, wo Trish ist? Weißt du es?«
O Gott, was jetzt? Wenn ich ihr die Wahrheit sage, wird sie mich zwingen, damit zur Polizei zu gehen. Wenn ich lüge, wird sie es dank mütterlicher Intuition sofort merken, und ich hätte bei ihr wohl endgültig verschissen.
»Mom, diese Frage kann ich dir nicht beantworten. Noch nicht. Du musst mir noch ein bisschen Zeit geben, das zu regeln.«
» Was regeln?«
»Bitte. Vertrau mir einfach. Du weißt, dass ich nie das Leben eines Kindes gefährden würde. Ich habe mit der Polizei gesprochen. Die glauben jetzt nicht mehr, dass ich etwas damit zu tun hätte.« Nur die halbe Wahrheit. Das FBI hält mich für eine Hauptverdächtige. Deshalb füge ich hinzu: »Es könnte sein, dass sich noch zwei Agenten bei dir melden.«
Wieder atmet sie zischend ein. »Du meinst diese beiden Gestalten vom FBI?«
Ich beiße die Zähne zusammen. »Haben sie sich etwa schon mit dir in Verbindung gesetzt?«
»Allerdings. Die Agenten Donovan und Bradley haben mich in der Schule aufgesucht. Sie haben mir den Eindruck vermittelt, du und Frey wärt ein Liebespaar. Möchtest du mir das vielleicht erklären?«
Ich fahre mir mit der Hand übers Gesicht. »Es tut mir leid, Mom.«
»Mir auch, Anna. Ich bedaure es, zugelassen zu haben, dass du in all das verwickelt worden bist.«
Ich höre die Enttäuschung in ihrer Stimme und winde mich förmlich auf meinem Autositz. Eine Weile herrscht Schweigen, dann ergreift sie wieder das Wort.
»Ich gebe dir noch vierundzwanzig Stunden. Bis dahin musst du Trish hierherbringen, Anna. Es ist mir egal, wie du das anstellst. Aber ich will dieses Kind sicher und wohlbehalten hier zu Hause haben, wo es hingehört. Ist das klar?«
Sie wartet meine Antwort nicht ab. Das ist auch nicht nötig. Sie legt auf, und ich fühle mich wie versengt von ihrem hitzigen Befehl.
Kapitel 36
M ein Leben besteht offenbar nur noch aus einer Reihe von Fristen – das jüngste Ultimatum wurde mir von meiner eigenen Mutter gestellt. Die Tatsache, dass sie sich nicht einmal erkundigt hat, ob ich den Gentest schon in Auftrag gegeben habe, unterstreicht nur, wie wütend sie auf mich ist.
Es ist kurz nach sechs, auf der Mission sind immer mehr Fußgänger unterwegs. Von meinem Parkplatz aus sehe ich zu, wie die Leute ins Mission Café schlendern. Die meisten sind Pärchen, die Händchen halten und einander in stiller Zufriedenheit anlächeln. Einsamkeit breitet sich in mir aus wie die Schatten der untergehenden Sonne. Ich hatte nie eine typische, ganz normale Beziehung. Als ich jünger war, wollte ich keine. Mitzuerleben, wie David und Gloria einander wahnsinnig machten, hat mir bestätigt, dass ich die Art Ärger auch jetzt nicht brauchen kann. Mein Motto war immer: Wenn du es brauchst, such dir einen Mann und hol es dir. Max passt da perfekt. Er schaut vorbei, wir treiben es ein, zwei Tage lang wie die Karnickel, und dann ist er wieder weg.
Perfekt für uns beide.
Dachte ich zumindest.
Seit wann will Max mehr? Was habe ich da nicht mitgekriegt?
Oder bin ich einfach davon ausgegangen, dass unsere Beziehung sich wegen unser beider beruflicher Situation nie ändern würde? Kurzsichtig, sogar für die menschliche Anna. Und egoistisch.
Ein lautes Hupen reißt mich aus meinen Gedanken. Ich schaue über die
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