Lockruf des Blutes
Dunkeln genauso gut sehen kann wie bei Licht, ist mir die Vorstellung, mit Frey in diesem Zustand allein zu sein, nicht gerade angenehm. Ich strecke die Hand aus, um die Schreibtischlampe anzuknipsen.
Ein tiefes, leises Knurren hält mich davon ab.
»Nicht.«
Das klingt nicht wie Freys Stimme. Ich ziehe meine Hand zurück und spähe zu ihm hinüber. Er steht aufrecht, aber sein Gesicht verändert sich. Die Züge werden flacher, die Nase fast platt, während die Ohren sich in die Länge ziehen und an seinem Kopf aufwärts wachsen. Seine Augen werden zu mürrischen gelben Kugeln, die Pupillen zu schlitzförmigen, pechschwarzen Diamanten, die silbrig aufblitzen, als er den Kopf bewegt.
Und diese Augen beobachten mich nun mit einer Intensität, die mir einen ängstlichen Schauer über den Rücken jagt.
Als er den Mund öffnet, um zu sprechen, höre ich ein kehliges Fauchen. »Es tut mir leid. Ich wusste nicht, wohin ich sonst gehen sollte.«
»Warum bist du nicht in eurem Hauptquartier im Park geblieben?«
»Ich habe mich nicht getraut. Dort arbeiten Menschen, die noch nie eine Verwandlung gesehen haben. Ich wollte ihnen keine Angst machen. Und Trish ist da. Bisher konnten sie ihr die wahre Natur dieser Einrichtung verheimlichen, aber wenn sie mich so sähe …«
Frey bewegt den Kopf in kleinen Kreisen, als wolle er den verkrampften Hals und die Schultern lockern. Er zerrt an seinem T-Shirt, mit Händen, die sich vor meinen Augen in Klauen verwandeln. Der Stoff zerreißt, die Fetzen fallen zu Boden.
»Ich werde nicht mehr lange sprechen können«, sagt er. Die Enden nadelspitzer Zähne ragen aus schwarzem Zahnfleisch hervor. Er hat sich gekrümmt und zieht ungeschickt an seiner Hose, bis er sie los ist. Seine Beine sind mit einem dünnen Pelz schwarzer Haare bedeckt.
Ich sehe zu, gebannt von einem Anblick, den selbst das beste Special-Effects-Team in Hollywood nicht erschaffen könnte. Der Panther schält sich aus der Hülle von Freys menschlicher Gestalt hervor – ein perfektes Katzengesicht, seidiges Fell, etwa sechs, sieben Zentimeter lang und schwarz wie die Nacht vor dem Fenster. Aber die Verwandlung ist nicht ganz vollständig. Frey steht aufrecht, und ein Funken Intelligenz, die über die eines Tiers hinausgeht, verharrt in seinen Augen. Das einzige Geräusch, das er von sich gibt, ist ein grollendes Knurren, das tief aus seiner Brust zu kommen scheint. Und er beobachtet mich. Ich komme mir vor wie eine Ratte im Kobra-Terrarium. Eine unvorsichtige Bewegung, und er wird sich auf mich stürzen.
Er geht um den Schreibtisch herum, aufrecht, aber mit fließend anmutigen Bewegungen. Ein plötzlicher, beängstigender Gedanke lässt meinen Puls in die Höhe schnellen. Ich weiß nicht, was Gestaltwandler so tun, wenn sie ihre Tiergestalt annehmen. Sehe ich jetzt für Frey wie ein Abendessen aus?
Ich rücke vom Tisch ab, bleibe aber sitzen, bereit, mich zu verteidigen. Großartig. Ein Kampf mit einem Panther auf Leben und Tod. Das perfekte Ende eines perfekten Tages. Frey kommt näher, seine Lefzen ziehen sich zurück, und er gibt weiterhin dieses dumpfe, grollende Knurren von sich. Ich bin bereit, hochzuschnellen und ihn mir mit jedem Quentchen Kraft und List, die ich besitze, vom Leib zu halten. Tier gegen Tier. Ich weiß, dass ich stark genug bin, um ihn zu besiegen. Ich muss nur außerhalb der Reichweite dieser Pranken bleiben. Müsste um ihn herumkommen und von hinten …
Frey hat sich auf alle viere niedergelassen. Sein Kopf ist nun auf gleicher Höhe mit meinem, und wir beobachten einander genau. Ich stemme die Füße gegen den Boden, sammle meine Kraft und konzentriere meine Gedanken.
»Komm schon, Kätzchen«, flüstere ich. »Ich warte.«
Verstehen blitzt in diesen mandelförmigen Augen auf. Und ich könnte schwören, dass er lächelt. Er senkt den Kopf und reibt ihn an meiner Brust. Diese Laute, die er von sich gibt, sind jetzt noch lauter, doch das Timbre hat sich geändert.
Er drückt den Kopf an meine Brust und schnuppert sacht an meiner Hand.
Ich starre ihn ungläubig an.
Das Schnurren ist ohrenbetäubend.
Ich lege ihm eine Hand auf den Kopf. »Herrgott, Frey«, murmele ich. »Werde ich mich an diesen Mist je gewöhnen?«
Kapitel 37
DONNERSTAG
E s ist etwa Mitternacht, als ich die Augen nicht mehr offen halten kann. Ich schlafe ein, mit dem Kopf auf dem Schreibtisch und Freys pelziger Schnauze in meinem Schoß. Das Tuten eines Kreuzfahrtschiffs, das im Hafen ablegt, reißt mich aus
Weitere Kostenlose Bücher