Lockwood & Co. - Die Seufzende Wendeltreppe: Band 1 (German Edition)
Wortes mehr. Er stakste voran, umrundete die letzte Ecke und brachte uns wieder zum Haupteingang. Dort stellten wir fest, dass jemand unser Gepäck die Stufen hochgetragen hatte. In der offenen Tür stand eine hohe, hagere Gestalt und winkte zur Begrüßung mit dem versilberten Spazierstock.
Kapitel 19
»Willkommen, Mr Lockwood, willkommen!« John William Fairfax schüttelte Lockwood die Hand, George und mich bedachte er nur mit knappem Nicken. Der Fabrikant wirkte noch größer, ausgemergelter und insektenähnlicher als bei unserer ersten Begegnung. Sein dunkelgrauer Anzug schlotterte in Falten um seine mageren Gliedmaßen. »Sie sind so pünktlich, wie Sie versprochen hatten. Auch ich habe mein Versprechen gehalten. Ich habe vor zehn Minuten das Geld auf Ihr Konto überwiesen, Mr Lockwood, sodass die Zukunft Ihrer Agentur gesichert ist. Gratuliere! Wenn Sie mich jetzt bitte in meine Räumlichkeiten im Ostflügel begleiten wollen? Von dort aus können Sie wie besprochen bei Ihrer Bank anrufen. Mr Cubbins, Miss Carlyle – am Kamin in der Langen Galerie wartet ein kleiner Imbiss. Lassen Sie Ihr Gepäck ruhig hier stehen. Starkins wird sich darum kümmern.«
Lautstark weiter plaudernd ging er mit Lockwood von dannen, wobei sein Stock über den Steinfußboden klackerte.
George ging nicht gleich ins Haus, sondern trat sich erst die Schuhe auf der Fußmatte vor der Tür ab. Auch ich blieb noch einen Augenblick stehen, aber nicht wegen meiner Schuhe. Nein, zum allerersten Mal, seit mich Jacobs als Kind unter Androhung von Prügeln in ein verfluchtes Bauernhaus gejagt hatte, missachtete ich die erste und wichtigste Grundregel.
Ich zögerte und verharrte ängstlich an der Tür.
Die Eingangshalle war ein großer quadratischer Raum mit weiß getünchten Wänden und einer gewölbten Holzdecke. Laut Georges alten Plänen war sie ein Überbleibsel des ursprünglichen Klosters und mit ihren Ausmaßen und ihrer Schlichtheit erinnerte sie tatsächlich an eine Kirche. Von ganz oben, wo sich die alten Balken trafen, blickten kleine geschnitzte Figuren mit Flügeln und langen Gewändern auf uns herab. Ihre Mienen waren unergründlich, denn die Zeit hatte ihren Gesichtszügen zugesetzt. An den Wänden hingen Ölgemälde, überwiegend Porträts vornehmer Damen und Herren aus längst vergangenen Jahrhunderten.
Bogenförmige Durchgänge auf beiden Seiten führten in die angrenzenden Räume. Direkt mir gegenüber jedoch erhob sich ein höherer Bogen fast bis zur Decke und dahinter …
… dahinter befand sich eine Treppe. Die breiten Stufen hatten tiefe Mulden von den unzähligen Füßen, die sie hinauf- und hinuntergestiegen waren, und der Stein war blank wie polierter Marmor. Die steinerne Balustrade führte bis zu einem Treppenabsatz empor, über dem ein rundes Glasfenster in die Wand eingelassen war. Durch die Scheibe glommen die letzten Sonnenstrahlen und färbten die Stufen rot.
Der Anblick der Treppe verschlug mir den Atem. Ich blieb reglos stehen – und ich lauschte.
Neben mir trat sich George stampfend die Plattfüße ab. Der alte Starkins hievte ächzend und schnaufend die erste Tasche über die Schwelle und ließ sie auf den Boden plumpsen. Irgendwelches Personal eilte mit voll beladenen Tabletts an mir vorbei, Kuchenteller, Teetassen und Besteck klirrten. Ich hörte Lockwood lachen, als er Fairfax in einen Nebenraum folgte.
Soll heißen: Um mich herum herrschte jede Menge Lärm. Aber als ich lauschte, hörte ich etwas anderes – Stille. Die Stille des Hauses selbst. Ich spürte sie überall um mich herum, eine wachsame Stille, beinahe lauernd. Die Stille erstreckte sich die Treppe hoch, breitete sich in allen Stockwerken aus, kroch durch offene Türen und ballte sich unter einsamen Fenstern. Sie war allumfassend und unendlich. Und sie wartete auf uns, das spürte ich. Mir war, als schwebe etwas Großes, Schweres über mir, bereit, mich unter sich zu begraben.
George war mit Schuheabtreten fertig und nahm die Verfolgung der Kuchentabletts auf. Starkins plagte sich immer noch mit unserem Gepäck ab. Fairfax und Lockwood waren verschwunden.
Ich drehte mich um und warf einen Blick auf die Zufahrt und den Park. Das Tageslicht zog sich aus der winterlichen Landschaft zurück. Schatten sammelten sich in den Furchen der Felder hinter dem Park. Bald würde die Dunkelheit alles überschwemmen und die Stille im Haus würde sich regen …
Panik schnürte mir die Brust zu. Aber ich musste ja nicht hineingehen. Ich konnte
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