Lodernde Begierde
erreichte, sah sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung, ein Flattern dunklen Stoffs, der hinter einem der Cottages verschwand. Eisige Angst kroch ihr den Nacken hinauf. Obschon sie Grahams Kleidung trug, hatte sie keinen Zweifel daran, dass sie definitiv wie eine Frau aussah und zudem allein war.
Was sollte sie tun? Stehen bleiben und sich eine Waffe greifen? Durch den kleinen Weiler gehen und weiter der verlassenen Straße folgen, wo man sie leicht verfolgen konnte? Oder würde, wer auch immer sich dort bewegt hatte, in seinem Heim verweilen und ihr erlauben, weiterzugehen?
Ängstlich blieb sie stehen und drehte sich dann langsam um die eigene Achse. Sie ging einmal im Kreis, an einem nahen Haufen aus Geröll, zerbrochenen Holzplanken und rostigen Eisenteilen vorbei. Rasch kniete sie sich hin, um sich ein Stück Eisenkette und eine gesplitterte Holzplanke zu nehmen. Wahrlich schäbige Waffen, denn die Kette zerfiel in ihren Händen fast zu Staub, und die vertrocknete Holzplanke würde wahrscheinlich beim ersten Schlag zerbersten, aber vielleicht würde das ja ausreichen, um ihren Angreifer in die Flucht zu schlagen.
Sie konnte niemanden sehen, doch sie fühlte sich weiterhin beobachtet und bedroht. Konnte sie sich täuschen ? Hatte sie nur das Knarren eines uralten Fensterladens im Wind gehört und das Flattern eines zurückgelassenen Lumpens gesehen? Graham sagte ihr ja immer, sie habe zu viel Fantasie. Machte sie aus einem langweiligen Spaziergang gerade eine dramatische Verfolgungsjagd ?
Sie schluckte. Dann drehte sie noch eine weitere Runde, wobei sie den Blick fest auf die Schatten im Innern der Cottages und der weit offen stehenden Tür der Mühle richtete.
Jemand beobachtete sie – jemand, der ihr nichts Gutes wollte.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
G raham trieb Somers Pferd heftig an. Zwei Straßen führten durch Edencourt. Er hatte keine Ahnung, welchen Weg Sophie genommen hatte, deshalb musste er alle vier Richtungen abreiten, nach Osten, nach Westen, nach Süden und nach Norden.
Die Straßen waren menschenleer. Die sie umgebende Landschaft war nicht mehr als ein anklagendes Bild der Verwüstung aus Unkraut, einstürzenden Mauern, verfallenen Cottages und ein paar fahlgesichtigen Bauern, die ihn nur mit leerem Blick ansahen, als er sie nach einer entführten Frau fragte.
Seine Leute hielten augenscheinlich nicht viel von ihm. Er hoffte bloß, dass ihre Grundanständigkeit verhinderte, dass sie Sophies Aufenthaltsort vor ihm geheimhielten.
Niemand hatte sie oder einen Mann, auf den Wolfes Beschreibung passte, gesehen.
»Hierher kommt niemand, Mylord.« Natürlich hatten sie noch nichts vom Tod des früheren Herzogs und seinem eigenen Aufstieg gehört. Graham vermied es, sie zu informieren, denn das würde ihre Haltung ihm gegenüber nur noch verhärten. »Nie kommt jemand hierher.«
»Äh … ja. Danke.« Beschämt und verzweifelt zugleich wendete Graham Somers Pferd und versuchte es in einer anderen Richtung.
Auf der Straße nach Süden bot sich ihm schließlich ein erstaunlicher Anblick. Ein winziges Mädchen spielte inmitten eines Halbkreises verfallener Cottages – er erinnerte sich schwach daran, am Morgen zu Fuß hier durchgekommen zu sein –, und auf ihrem schmutzigen, goldenen Haar trug sie etwas, was er sofort wiedererkannte.
Es war seine Lieblingskappe aus Kindertagen.
Sie erstarrte, als er auf sie zukam, und als sie sah, dass er sein Pferd zügelte, wollte sie wegrennen.
»Nein! Warte! Bitte, hast du eine Dame gesehen?« Bei seinem bettelnden Tonfall blieb das Mädchen stehen und drehte sich zu ihm um, einen schmutzigen Finger steckte sie in den Mund.
Graham saß ab und näherte sich ihr langsam, er versuchte verzweifelt, einen harmlosen Eindruck auf sie zu machen und sich nicht anmerken zu lassen, dass er sie am liebsten in einen Sack stecken würde, bis sie ihm erzählte, woher sie seine Kappe hatte. »Ich habe meine Dame verloren, weißt du«, sagte er sanft. »Sie ist groß und hat rotgoldenes Haar …«
Das Mädchen nickte. Gott sei Dank! Graham machte noch ein paar Schritte vor, ließ die Zügel des Pferdes los und sank auf ein Knie. Ich bin so harmlos, du könntest mich mit einem Schlag deiner winzigen, verdreckten Hand umhauen. »Kannst du mir sagen, wohin sie gegangen ist?«
Das kleine Mädchen schaute ihn aus großen, blauen Augen an, dann schüttelte sie den Kopf. Nein.
»Du hast nicht gesehen, dass sie vorbeigekommen ist?«
Nein.
Das war sinnlos. Das Kind hatte
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