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Lösegeld am Henkersberg

Lösegeld am Henkersberg

Titel: Lösegeld am Henkersberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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blieben stehen. Carla hatte ein
rundes, mütterliches Gesicht — so freundlich wie ein schrumpelfreier Bratapfel.
Carls 80er-Gesicht wirkte wie aus Holz geschnitten, nußbaumbraun. Unter der
gewaltigen Nase hing ein reinweißer Schnauzbart.
    „Worum geht’s, Jungs?“ fragte der
Oldie.

    Klößchen schnupperte. Aus dem Karton,
den Carla schleppte, duftete es nach frischem Brot.
    „Wir sind Internatsschüler“, antwortete
Tim, „und suchen einen Stadtstreicher. Er heißt Leo. Mehr wissen wir nicht.
Aber wir können ihn beschreiben.“
    „Leo?“ Carl wandte sich an seine Frau. „Von
einem Leo haben wir noch nie gehört. Oder irre ich mich, Carla?“
    „Nie gehört“, bestätigte sie. Und zu
den Jungs gewandt: „Aber wir kennen ja nicht alle. Es gibt Hunderte. Nur ein
Teil von ihnen nimmt unsere Hilfe in Anspruch.“
    „Kennen Sie Würgegriff-Paula?“ fragte
Tim und verbarg seine Enttäuschung.
    Carl nickte. „Nach der werdet ihr
vergeblich suchen. Sie verbringt den Winter in Italien. Jedenfalls hatte sie
das vor. Seit Weihnachten sind wir ihr nicht mehr begegnet.“
    „Da kann man nichts machen.“ Tim hob
die Achseln.
    „Was wollt ihr denn von Leo?“
    „Vermutlich hat er einen schweren
Diebstahl begangen. Alles deutet darauf hin.“
    „Dann muß doch die Polizei nach ihm
suchen. Wieso macht ihr das?“
    „Wir unterstützen die Ordnungshüter“,
rief Klößchen. „Und das nicht zum erstenmal. Wir haben schon Übung. Außerdem
ist meine Mutter das Opfer. Dieser Typ hat ihren Bordcase geraubt — mit sehr
wertvollem Schmuck.“
    Erschreckt weitete Carla die Augen.
Carl kratzte sich am Kinn und wechselte das dicke Bündel Altkleider vom linken
Arm unter den rechten.
    „Im allgemeinen, Jungs, sind die
Obdachlosen ehrlich. Sie betteln. Manchmal kommt es zu einer Schlägerei unter
ihnen. Aber kriminelle Taten sind selten. Natürlich gibt es Ausnahmen. Viel
Glück bei der Suche! Bringt euch nicht in Gefahr!“ Tim dankte, die Riesemeyers
schlurften weiter. Doch nach drei Schritten drehte der Alte sich um.
    „Jetzt erinnere ich mich: Uns ist ein
Mann aufgefallen. Er haust in einer Wellblech-Baracke hinter der
Prinz-Felix-Brücke. Ich habe ihn mal angesprochen, ob er was brauche. Aber da
kam ich an die falsche Adresse. Er sei nicht hilfebedürftig, hat er mich
angefaucht. Was natürlich nicht stimmt. So abgerissen wie der laufen unsere
Leute nicht herum. Weil wir sie mit abgelegten Textilien versorgen.“
    „Guter Tip!“ sagte Tim. „Erinnern Sie
sich, wie der Typ aussah?“
    „Engstehende Augen hat er“, nickte
Carl. „Und eine aufwärts gestülpte Nase.“
    „Das könnte er sein“, rief Klößchen.
    Na also! dachte Tim. Hört sich an nach
heißer Spur. Jetzt aber los! Bevor Leo ins Grand-Hotel umzieht. Wenn er Frau
Sauerlichs Schmuck verkauft, reicht die Kohle allemal.
    Die Prinz-Felix-Brücke war reichlich
einen Kilometer entfernt.
    Die Jungs flitzten über den Radweg,
überholten den Jogger und begegneten einer Frau mit zwei Schäferhunden. Die
wollten den Radfahrern nachjagen, waren aber gut abgerichtet — und das gab den
Ausschlag. Die Frau pfiff, und die beiden Vierbeiner gingen bei Fuß.
    Tim fuhr unter der Prinz-Felix-Brücke durch.
Dämmerung war angebrochen. Überall brannten die Lichter, und hier am Ufer
reichte der Blick nicht mehr weit.
    Doch der TKKG-Häuptling wußte, welche
Wellblech-Baracke gemeint war. Wer mit offenen Augen durchs Leben geht, sieht
mehr als ein Träumer mit Scheuklappen. Tim hatte es sich zur Regel gemacht, auf
seine Umwelt zu achten.
    „Nicht so schnell!“ rief Klößchen. „Mich
reißt der Wind aus dem Sattel.“
    Aber Tim war schon am Ziel. Vor der
Baracke, die von Dunst umwabert wurde, sprang er vom Rad.
    Die nächste Laterne stand ein Stück
entfernt. Von der Straße oben reichte das Licht nicht herab.
    Trotz der Dämmerung sah er: Die
Barackentür war geschlossen. An einer kurzen Kette hing ein Vorhängeschloß,
offen — was bedeuten konnte, daß der Bewohner dieser Notunterkunft zwischen
seinen vier Wellblechwänden weilte.
    „Ich glaube, er ist da“, sagte Tim. „Karl,
halt mal meine Tretmühle.“
    Der TKKG-Häuptling trat zur Barackentür
und stieß sie auf.
    Ein dunkler Raum, die Luft abgestanden
und miefig. Es roch nach einer Kompanie ungewaschener Penner — und falls hier
nur der eine hauste, konnte er sich was einbilden auf seine Ausdünstung.
    „Hallo!“ sagte Tim in die graufleckige
Dunkelheit. „Ist hier jemand? Ist Leo zu

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