Lösegeld am Henkersberg
spürbar
verlegen. Weshalb? Ich hörte noch, wie sie sagte: ,...und vergiß nicht, von wem
du das weißt, Enrico!...’ Wahrscheinlich ist dieser Enrico ihr Freund. Aber
deshalb braucht sie nicht so heimlich zu tun.“
Tim nickte, dachte aber nicht weiter darüber
nach. Das Hausmädchen Farina war hier ohne Bedeutung. Jetzt ging es um den
Stadtstreicher Leo, um Frau Sauerlichs Bordcase, um den Schmuck!
„Wenn ihr uns also nicht dabei haben
wollt“, sagte Gaby, „verzupfen wir uns zu mir. Die Vanille-Torte wartet, und
Alice hat mir noch sooo viel zu erzählen. Während ihr nach Würgegriff-Paula und
Leo sucht, hecheln wir euch durch. Vielleicht klingeln euch die Ohren. Das
bedeutet: Ihr kommt nicht gut weg.“
„Oskar hört mit“, lachte Tim, „und
erzählt es uns dann.“
„Mein Hund verrät mich nicht“, meinte
Gaby.
„Wollt ihr die Torte wirklich allein
essen?“ fragte Klößchen. „Die ganze Vanille-Torte?“
„Du hast dein Teil schon“, erwiderte
Gaby. „Aber vielleicht bleibt genug übrig. Alice ißt ja nichts Süßes, wie mir
einfällt.“ Ihre Brieffreundin nickte. „Noch drei Monate — dann darf ich wieder.“
Sie hatten Gabys Zuhause erreicht, und
die Mädchen wurden verabschiedet. Tim erhielt von seiner Freundin ein Bussi auf
die Wange und einen Puff in die Rippen. Oskar blieb noch einen Moment auf der
Stufe sitzen. Wehmütig blickte er den Jungs nach. Er wäre gern mitgegangen.
Mit gesenkten Köpfen radelten sie gegen
den Schneeschauer an.
„Mit Alice“, rief Klößchen, „hat Gaby
eine sehr nette Freundin. Leider ist sie nicht ständig hier. Sonst würde ich
vorschlagen: Wir vergrößern die TKKG-Bande. Fünf sind auch nicht schlechter als
vier.“
„Nichts gegen Alice“, sagte Tim, „aber
unser Grundsatz bleibt unser Grundsatz. Oder willst du jeden aufnehmen, den du
nett findest? Wir sind doch keine Volkspartei, die um Mitglieder wirbt.“
Sie fuhren zum Fluß. Unterwegs machte
Tim sich Gedanken. Wie viele der Nichtseßhaften campierten unter den Brücken?
Es war ein beliebter Treffpunkt, doch eigentlich nur im Sommer. Wo trieben sich
die Stadtstreicher zu dieser Jahreszeit herum? Vermutlich in Abbruchhäusern,
leerstehenden Lagerhallen, Gartenhäusern. Da konnte man lange suchen.
In der Wieland-Straße, die am Fluß
entlangführt, riß der Strom der Autos nicht ab — wie an jedem Wochentag um
diese Zeit.
Die Jungs hielten an der Steintreppe,
sie ist so angelegt, daß sie dreimal die Richtung ändert an dem befestigten
Steilufer. Unten auf dem gemauerten Kai verlaufen Rad- und Spazierwege. Die
breiteste Brücke, die den Fluß an dieser Stelle überspannt, ist die
Regenbogen-Brücke. Zwischen ihren Pfeilern glimmen abends die Lagerfeuer, und
die Penner wärmen ihre Hände und die Schnapsflaschen.
Karl rückte an seiner Brille und spähte
hinunter.
„Seht ihr die beiden dort? Ich glaube,
das sind die Riesemeyers.“
Tim folgte Karls Blick.
Unten auf dem Kai tippelten zwei alte
Leute. Sie schleppten Bündel und Kartons, sahen aber nicht aus wie Penner.
„Welche Riesemeyers, Karl?“
„Sie waren kürzlich in der Zeitung
abgebildet. Man nennt sie auch die Engel der Obdachlosen.“
„Dann sind sie’s nicht“, meinte
Klößchen. „Die dort unten haben keine Flügel.“
„Hahahah“, machte Karl, ohne zu lachen.
„Vor diesen mildtätigen Mitmenschen kann man nur respektvoll die Mütze lüften.
Carl und Carla Riesemeyer sind pensionierte Lehrer, 80 und 76 Jahre alt und voll
engagiert in ihrem Anliegen. Sie sammeln für die Obdachlosen Altkleider, Geld,
Hustensaft. Carla Riesemeyer beliefert die Penner dreimal wöchentlich mit
selbstgebackenem Brot.“
„Ist riesig, was die Riesemeyers da
leisten“, nickte Tim. „Und ganz nebenbei kennen sie vermutlich jeden der
Tippelbrüder. Darauf willst du doch hinaus?“
„Richtig. Sie kennen jeden und auch
dessen Lebensgeschichte.“
Tim hängte sich sein Rennrad über die
Schulter und eilte die Stufen hinunter, seine Freunde hinterher.
Kalter Dunst stieg aus dem Fluß. Die
Uferlaternen gossen trübes Licht aus. Ein Jogger mit Kapuzen-Sweatshirt
überholte die Riesemeyers. Beide trugen Lodenmäntel und Schlapphüte.
Die Jungs holten das alte Lehrerpaar
ein. Es strebte zur Regenbogen-Brücke, aber die Schritte waren kurz und ebenso
der Atem, der den beiden Alten voranwölkte.
Auf gleicher Höhe mit ihnen sagte Tim: „Herr
und Frau Riesemeyer, ja? Wir kennen Sie aus der Zeitung. Und hätten eine Frage.“
Sie
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