Loewenmutter
Familiengericht nachhaken wollte, war es geschlossen – Sommerpause, tut uns leid. Also versuchte ich es bei unserem Rechtsanwalt. Ich betrat die Kanzlei, da machte Monsieur Avocat die Tür hinter mir zu und stellte sich mit seinem Bierbauch direkt vor mich: »Soso, die Tochter Abdelhamids kommt persönlich bei mir vorbei, das freut mich aber«, sagte er, so dicht vor meinem Gesicht, dass ich seine Alkoholfahne riechen konnte. Was wollte er von mir? Ich bekam es mit der Angst zu tun. »Wegen der Kinder«, stammelte ich. »Mal sehen, was sich da machen lässt«, entgegnete er und kam noch näher. »Nein bitte!«, bei diesen Worten wich ich zurück, riss die Tür auf und verließ fluchtartig die Kanzlei. Zu Hause beschwor mich der Vater, durchzuhalten: Zwei, drei Jahre seien durchaus üblich bei einem Sorgerechtsprozess, zumal diese Prozesse von Männern geführt werden, die wenig Interesse daran haben, Frauen ihre Kinder zuzusprechen. Wo käme man denn da auch hin? Die Töchter sind nicht wichtig, aber die Söhne. Sie sind die Stammhalter und gehören zur Familie des Vaters, wo sie Namen und Tradition fortführen.
Ich schaute noch immer in die Speisekarte. Schon zweimal war der Kellner mit dem Zopf vorbeigekommen, und ich hatte jedes Mal abgewunken. Ich stützte meinen Kopf in die Hand und versuchte die Angebote zu lesen und auseinanderzuhalten. Ich hätte ihm ja irgendwelche Ziffern sagen können, die am Rand der betreffenden Pizza standen. »Na, was darf's heute sein?«, fragte er mich nun wieder. Markus hieß er, ich hatte ihn gleich das erste Mal gefragt, er studierte Informatik und verdiente sich sein Studium mit dem Job in der Kneipe. Ich überlegte, starrte von Neuem in die Karte. »Weiß nicht.« Ich schaute ihn an, ließ ihn warten. Eigentlich nicht mein Typ, groß, kräftig, ein Schrank, blaugraue, tiefliegende, aber liebe Augen, ein Doppelkinn, jünger als ich.
»Also, einmal ›Ich weiß nicht‹, das notier ich schon mal«, versuchte er einen Witz. »Ach«, sagte ich, ohne auf ihn einzugehen, mir war nicht danach. »Ich kann mich nicht entscheiden. Kannst du mir nicht etwas empfehlen?« Wir hatten uns von Anfang an geduzt, diesen ungezwungenen Umgang unter gleichaltrigen Deutschen hatte ich im Frauenhaus kennengelernt, und er gefiel mir. »Was magst du denn gerne?«, fragte er und setzte sich neben mich auf die Bank. »Dann stell ich dir etwas zusammen.« – »Wie zusammenstellen?« – »Auf deine Pizza kommt nur drauf, was du gerne magst.« – »Aber ich weiß doch nicht, was ihr alles habt, und manches kenne ich vielleicht gar nicht.« – »Hey, dann komm mit in die Küche, und such dir was aus.« Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Noch nie hatte ich mir mein Essen im Restaurant selbst zusammenstellen und in der Küche aussuchen können.
Nachdem ich alles probiert hatte, wusste ich, dass ich Artischocken liebte, scharfe Pepperoni und Krabben. Aber auch Speck, Salami, Thunfisch, Ruccola. »Weißt du was?«, sagte Markus, »ich mach dir eine Riesenpizza mit vier unterschiedlichen Teilen.« – »Wenn du meinst«, sagte ich, »und was übrig bleibt, lass ich einpacken und bring’s meinen Kindern mit.« – »Was, du hast Kinder?«, fragte er mich. »Warum kommst du dann immer allein?« – »War nur ein Witz. Den Kindern kann ich die Pizza gar nicht mitbringen, denn die leben entführt in Tunesien.« Ich ärgerte mich, dass es mir herausgerutscht war. Ich wollte Markus nicht von meinen Problemen erzählen, was gingen sie ihn an. Zumal wir nicht weitersprechen konnten, da er plötzlich alle Hände voll zu tun hatte und damit beschäftigt war, telefonische Bestellungen entgegenzunehmen und neue Gäste zu bewirten. Obwohl alle vier Pizzateile gut schmeckten, ließ ich sie an diesem Tag fast unberührt stehen und ging schnell nach Hause.
In meine eigenen vier Wände. Als ich im Herbst nach Hamburg zurückgekehrt war, hatte das Frauenhaus eine kleine Wohnung für mich gefunden. Anderthalb Zimmer, Küche, Dusche und Toilette, nicht weit vom Flughafen entfernt. Einerseits wäre ich gerne bei den Frauen im Frauenhaus geblieben, andererseits spürte ich genau, dass ich ausziehen musste, wenn ich wirklich selbständig werden wollte. Und das wollte ich: meinen eigenen Weg weitergehen. Ich hatte viel Hilfe und Unterstützung erfahren, hatte Arbeit, hatte Deutsch gelernt. Doch ein paar Frauen im Haus waren mir mit ihren Drogenproblemen auch ziemlich auf die Nerven gegangen. Ich wollte nicht mit
Weitere Kostenlose Bücher