Loewenmutter
alles, was ich vorher nicht besessen hatte. Sogar einen Minirock mit langen Stiefeln habe ich gekauft. Ganz spontan, im Winter. Weil er mir gefiel. Ich habe den Rock und die Stiefel geliebt. Im Sommer kaufte ich mir meine ersten Shorts und Trägertops.
Im Jahr vor meiner großen Hochzeit hatte ich mir in Tunesien Kleider bei einem Schneider in der Stadt anfertigen lassen: Hosen und dünne Blusen, nichts Besonderes. Ich wollte sie für meinen Mann tragen. Als dieser mich jedoch ein paar Tage nach der Zeremonie darin sah, geriet er außer sich vor Zorn und riss mir die Kleider fast vom Leib. »Du ziehst das sofort wieder aus«, schrie er mich an. »So ein Flitter. Was bildest du dir ein. Willst du mich blamieren? So kannst du nicht rumlaufen und aus dem Haus gehen schon gar nicht. Benimmst dich wie ein Flittchen. Wie kommst du darauf? Zieh dir was Vernünftiges an.« Körperbetonte Hosen und Kleider bezeichnete er als »halb nackt«, und dass seine Frau halb nackt herumlief, duldete er nicht. Wenn schon Hosen, dann wenigstens mit Kleid drüber. Und wenn T-Shirts, dann nur lange, die das Gesäß bedeckten.
Ich habe meine Kleider damals aus- und nie wieder angezogen. Weggeworfen oder verschenkt, ich weiß nicht mehr. Ich fand sie schön, aber Abdullahs Reaktion hat mich tief beschämt und verletzt. Jetzt konnte ich zum ersten Mal anziehen, was ich wollte, und mich zeigen, wie ich wollte. Nach solchen Bummeltagen setzte ich mich in ein Café und bestellte Kuchen. Wie die alten Damen: Kaffee trinken und Kuchen essen, ganz für mich alleine. Wenn ich dann vom Kellner mit einem saloppen »Na, was wünscht die Dame?« begrüßt wurde, war ich glücklich. Man kann sich nicht vorstellen, wie gern ich plötzlich alleine war.
Ein neuer Job
Es roch nach Frühling, als wir den langen Holztisch ins Freie stellten und im verwilderten Garten des Frauenhauses unseren Nachmittagskaffee tranken. Der Flieder blühte lila, alles war grün, und ich hörte das gurgelnde Wasser des Alsterkanals. Von Tag zu Tag ging es mir besser. Die Weinattacken waren verschwunden, und mein Deutsch war inzwischen ganz ordentlich. Ich hatte gelernt, über mich zu sprechen, zu fragen, um Hilfe zu bitten und selbständig zu denken.
»Das Altenheim hat zugesagt«, rief Anja an einem dieser Nachmittage, die ich »meine grünen Tage« nannte, plötzlich. »Willst du den Job machen?« – »Was?« Ich war überrumpelt. »So schnell?« Das hatte ich nicht erwartet. Ich stützte meine Arme auf die Stuhllehne, legte den Kopf in die Hand: »Sag das nochmal, bitte.« – »Du-hast-einen-Job-im-Altenheim. Als Pflegehilfe.«
Eine Woche vorher hatten wir eine Anfrage vom Arbeitsamt bekommen, dass man eine Stationshilfe für ein Altenheim suche. Ich meldete mich sofort. »Willst du selbst dort anrufen und einen Vorstellungstermin vereinbaren?«, hatte mich Anja gefragt. »Aber klar!« Gleich war ich zu unserer Telefonkabine gerannt, ich weiß noch genau, immer war sie belegt, weil die Frauen wie die Weltmeister telefonierten. Ich wartete und sprach dann mit der Personalchefin im Altenheim. Sie bestellte mich zwei Tage später zum Vorstellungsgespräch. Anja fuhr mich hin.
Ich war außer mir vor Aufregung, ich wollte diesen Job unbedingt. Nein, außer zwei, drei Monaten Putzen habe ich keine Arbeitserfahrung in Deutschland vorzuweisen, legte ich gleich los, ob man sich damit zufriedengeben würde? Mal sehen. Die Personalfrau sagte nicht viel, zeigte uns aber das Haus, stellte mich dem einen oder anderen vor und erklärte, was ich als Stationshilfe zu tun haben würde: Essen richten, die alten Menschen zum Sport bringen, Betten machen, versorgen. »Ja«, sagte ich, »das kann ich gut. Seit ich geboren bin, versorge ich Menschen. Meine Geschwister, meine Eltern, meinen Ehemann, meine Kinder – ja wirklich, das müssen Sie mir glauben.« – »Und wer versorgt Ihre Kinder jetzt?« – »Sie sind nicht in Deutschland. Mein Ehemann hat sie nach Tunesien entführt. Sie leben bei seinem Bruder. Ich würde viel darum geben, sie zu sehen.« Sofort kam ich ins Erzählen, doch die Personalchefin unterbrach mich und meinte: »Sie haben geschickte Hände, eine spontane Art und ein ansteckendes Lachen. Das wird den alten Damen und Herren gefallen.« – »Das hoffe ich sehr«, antwortete ich.
Und nun die Zusage. Ich fiel Anja um den Hals: »Was muss ich denn da tun?« – »Keine Sorge, das wird man dir erklären.« – »Kann ich das überhaupt?« – »Klar kannst du das!«
Weitere Kostenlose Bücher