Loewenmutter
deutete mit dem Finger auf die eine oder andere Frisur. Ich aber schüttelte jedes Mal den Kopf, bis sie merkte, dass es mir ernst war: »Okay, schneiden wir einen Bob.«
Keine zehn Minuten später saß ich vor dem Spiegel, die Friseurin bugsierte den hydraulischen Stuhl ein wenig nach oben, schaute mir von hinten über die Schulter in die Augen. »Erst schneiden, dann waschen, dann nochmal schneiden, okay?«, fragte sie. Ich nickte und hörte gleich darauf das Geräusch der Schere, die sich auf Schulterhöhe durch meine Haare kämpfte. Die Esma, die mir eine halbe Stunde später aus dem Spiegel entgegenschaute, kannte ich nicht, aber sie war mir nicht unsympathisch. Größer kam sie mir vor.
Als Markus ein paar Tage später an meiner Wohnungstür klingelte und ich öffnete, waren wir beide überrascht. Ich hatte eine Pizza bei ihm bestellt, aber nicht erwartet, dass er selbst kommen würde. Markus erkannte mich kaum wieder mit den kurzen Haaren. »Pizza. Ich wollte zu Esma … «, stotterte er. »Steht vor dir!« – »Was ist passiert?« – »Die Haare sind ab, das siehst du doch.« – »Ja, ziemlich kurz, oder?« – »Täte dir auch gut.« – »Findest du, dass meine Haare zu lang sind?« – »Viel zu lang!« Er starrte mich ungläubig an, dann lachte er schallend, wahrscheinlich war ich zu frech. Ich entschuldigte mich, wollte ihm die Pizza und die Limo bezahlen, die er mitgebracht hatte, aber er winkte ab. »Wenn ich mir die Haare abschneiden lasse, kommst du dann auf ein Picknick mit an die Alster?« – »Was ist die Alster?«, fragte ich und steckte den Geldbeutel weg. »Du lebst in Hamburg und kennst nicht die Alster?« – »Nein.« – »Na, dann lass dich überraschen. Ruf mich an, wenn du mitkommen möchtest.« Mit diesen Worten legte er einen Zettel mit seiner Telefonnummer auf den Pizzakarton, den ich noch immer in der Hand hielt.
Ich habe tatsächlich angerufen. Weil ich jemanden zum Reden brauchte. Mein Vater hatte mir von den Kindern erzählt, die erste Nachricht seit langem. Von einem Kollegen auf der Polizeistation hatte er erfahren, dass Amal häufig krank sei und dass Amin kaum zur Schule gehe. Wenn ich doch nur etwas tun könnte. Kein Mensch kann sich vorstellen, wie schwer es ist, weit weg zu sein und den eigenen Kindern nicht helfen zu können, wenn man weiß, dass es ihnen schlecht geht. Schlimm, einfach schlimm. Ich musste jemandem mein Herz ausschütten, deshalb rief ich Markus an.
Er holte mich zum Picknick an der Alster ab. Mit kurzen Haaren. Extra für mich? Ich konnte es nicht glauben. Er hatte sich seine Haare für mich abschneiden lassen. »Schön«, sagte ich etwas verlegen, weil ich mir meine Rührung nicht anmerken lassen wollte. »Nicht ganz so schön wie bei dir«, antwortete er lachend. Immer hatte er gute Laune. Wir gingen zu Fuß die »schöne Aussicht« entlang, ich erzählte von mir, ununterbrochen, erzählte und weinte. Und spürte das moosig-weiche Grün unter meinen Füßen, roch die Wassertropfen in der Luft. Mitten in meinem Redeschwall aber stockte ich, ich traute meinen Augen nicht: ein See – mitten in der Stadt! So lange hatte ich schon in dieser Stadt gelebt, aber noch nie diesen See gesehen. Unmöglich. Meine Traurigkeit war wie weggeblasen. Was hatte ich nicht alles verpasst? Ich wirbelte umher wie ein Hund. Begann mit den Händen in den Blättern zu graben, die die Bäume wie bunte Stofffetzen über den Rasen gestreut hatten. Ich sammelte das Laub handvollweise und ließ es über Markus regnen, indem ich mich auf die Zehenspitzen stellte. Der Arme konnte meine Freude und Ausgelassenheit kaum begreifen. »Hast du wirklich noch nie die Alster gesehen?« – »Ich schwör’s, noch nie in meinem Leben habe ich etwas Schöneres gesehen!« – »Und wie lange lebst du schon in Hamburg?« – »Über zwölf Jahre.« – »Wo warst du? Im Knast?« – »Wofür hältst du mich?«
Auf der gegenüberliegenden Seite des Wassers tauchte der Fernsehturm aus dem Nebeldunst auf, und auf dem violettblau schimmernden Wasser zogen Paddler ihre Runden. Es war ein sonniger Nachmittag Ende Oktober. Markus breitete eine Decke auf den feuchten Rasen und packte seinen Rucksack aus. Eine selbst zubereitete Fischplatte. Woher wusste er, dass ich Fisch liebte? Himmlisch. Zum Schluss zog er ein Schachspiel heraus. Und während ich ihm meine ganze unglückliche Ehegeschichte und den Kampf um die Kinder erzählte, liefen Jogger mit ihren Hunden um die Wette, küssten sich
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